Gentrifizierungs-Phantasien
Talip Gökmen ist pünktlicher als die Jungs und Mädels von der Ruhrtriennale. Schlag 20 Uhr hat er das vor seinem „Adem Süpermarket“ drapierte Obst und Gemüse ins Geschäft getragen und die Jalousien eingeholt: Feierabend. Das ist schade. Denn schon als wir bei der Parkplatzsuche an seinem Laden vorbeigefahren waren, war uns das Wasser im Munde zusammengelaufen angesichts der ausgestellten kulinarischen Verlockungen. Unzählige Anlieger und Einheimische habe Schorsch Kamerun in sein Stadtteilprojekt einbezogen, heißt es; das Café Havanna freut sich noch über zahlreiche Gäste, und nach Ende der Vorstellung kaufe ich mir im Kiosk noch gegen 22.00 h ein paar türkische Erdnüsse. Mit Talip hätte man eine längere Öffnungszeit verhandeln sollen: Das köstliche Obst und Gemüse seines Süpermarkets hätte eine wunderbare Kulisse für Kameruns Nordstadt Phantasienabgegeben.
Stattdessen führt uns eine knappe Viertelstunde später der Düsseldorfer Investor Bobby Reich in den Container, der in der Dortmunder Feldherrenstraße gegenüber von Gökmens Laden aufgebaut ist. Irgendwie kommt Bobby uns bekannt vor: Es ist Paul Herwig. Ganz ohne professionelle Schauspieler wollte Kamerun sein Projekt offenbar doch nicht auf die Straße bringen; Herwig ist der prominenteste von ihnen. Spät in der eineinhalbstündigen Aufführung gehört ihm die intensivste Szene: Bobby erzählt die Geschichte von der Robert Reich Real Estate GmbH aus dem Düsseldorfer Hafen, die erkennt, dass in der zum Problemviertel verkommenen Dortmunder Nordstadt das große Geld liegt: Es ist der Kiez, der in nicht allzu weiter Ferne zum In-Viertel werden könnte, zum Viertel für Künstler und Neureiche auf der Suche nach dem alternativen Lebensstil. Bobby ruft auf zum Glauben an die Utopie, an die Chance der Nordstadt. Und siehe da: Es funktioniert.
Paul Herwigs Erzählung von der fast verpassten Chance der Robert Reich Real Estate GmbH und sein Aufruf an uns Investoren haben sprachlich etwas von Perry Rhodan oder sonstigen Groschenromanen. Die Ironie wird dick aufgetragen. Aber die Szene entwickelt gleichzeitig Intensität und einen hintergründigen Humor. Der große Schauspieler vermag halt gefangen zu nehmen. Das gelingt Kameruns Truppe an diesem Abend nur selten. Gentrifizierung ist das Thema des Musikers und Regisseurs. Glaubhaft versichert er in Interviews im Vorfeld der Premiere, dass er in der Dortmunder Nordstadt ein ähnliches Potential sieht wie in seinem Wohnort St. Pauli vor dreißig Jahren. Herwig drückt es im Investorensprech aus: Er schwärmt von der „Realness“, von der „lupenreinen, unbekümmerten Authentizität“: „Ungezähmteste Diversität - so was von nice!“Dass dieses nach dem Eindruck bei einer flüchtigen Begehung tatsächlich vorhanden scheinende Potential gleichzeitig Chance und Bedrohung, Fluch und Segen sein kann, ist Kamerun bewusst. „Lebensräume gehören denen, die sich darin aufhalten wollen, nichts anderes fanden, dort herkommen“, konstatiert der Regisseur im Programmheft. „Partizipation (bei anstehenden Veränderungen) … ist … keine gegebene Gnade durch Privateigentümer … oder Behörden, vielmehr ist sie Grundrecht auf unmittelbare Autonomie.“
Die Phantasien (oder sagen wir besser: phantasievollen Szenen), wie so etwas aussehen kann, sieht der Zuschauer bei Kameruns performativem Abend durch die Fenster des langen Containers mit seinen Plastikwänden, in den er zu Beginn geführt wurde; musikalische und sprachliche Kommentare mit kritischem Subtext hört er über ihm zuvor ausgehändigte Kopfhörer. Bloß: Es sagt uns nichts, das sogenannte Draußen. Denn wir sehen zwar, aber wir hören kaum. Irgendwann wird auf dem Bürgersteig ein Boxring aufgebaut, in dem sich zwei schräg kostümierte Manga-Fighter bearbeiten, angefeuert und unterstützt von einer Melange aus Performern und zufälligen Passanten (vor allem Kindern). Ein anderes Mal springen ein paar Akteure mit Schwimmringen und Plastikschwänen über die Straße. Ein Anwohner will Flamingos gesehen haben. Ein Fremdenführer (Carl Barbusch) führt eine Touristengruppe durch die Straße; eine Ernährungswissenschaftlerin (Verena Meis) steigt auf ein improvisiertes Podest und preist temperamentvoll gestikulierend ihre Erkenntnisse zur gesunden Ernährung an - vermuten wir zumindest, denn hören können wir im Container nix. Drei Tänzer vollführen einen „Ruhrquallen-Tanz“. Beim Schlussapplaus wird Qualle Alejandro Nicolas Fernández vom Regisseur ironisch als „Mitarbeiter des Tages“ ausgerufen, bloß: Qualle und Quallentanz hat Ihr Rezensent nicht erkannt. Denn da man anderes im Ohr hat als vor dem Auge, da zudem der Bürgersteig, auf dem etwas passieren könnte, eine erkleckliche Länge hat, weiß man oft nicht so recht, wo man hinsehen soll. Auch wer gerade spricht, erkennt man selten, sofern man die Texte überhaupt aufs Ohr gespielt bekommt.
„Ist das schon Promo oder doch noch meine Nordstadt?“, fragt da jemand, den wir hören. Die Frage ist berechtigt. Original Nordstadt ist es nicht, aber eine Vision ist es auch nicht. Der Zuschauer bleibt seltsam unberührt in seinem Container. Abgeschirmt vom echten Geschehen, stellt sich allzu oft eine gewisse Orientierungslosigkeit ein. Die vermögen die von Schorsch Kamerun gesungenen Songs, die von dem Musiker PC Nackt komponierten Melodien sowie die längeren Monologe, die uns auf die Kopfhörer gespielt werden, kaum aufzulösen. Sachtexte, von Kamerun monoton und mit sinnfreien Dehnungen gesungen, beginnen mit zunehmender Dauer des Abends zu nerven. Die echten Lieder sind von heterogener Qualität; manche sind voller kritischer, manchmal melancholischer Ironie und - ebenso wie die Mehrzahl der Kompositionen - ansprechend. Viele der monologischen - teilweise in der Diktion an Klassiker angelehnten - Texte sind so verquast formuliert, dass sie der Intention der gesamten Veranstaltung zuwider laufen: Sie holen die migrantisch geprägte und ansonsten sehr bodenständige Nachbarschaft der Nordstadt nicht ins Boot, sondern sie grenzen sich auf elitäre Weise davon ab.
Den zufällig auf der Straße vorbeiziehenden Kindern war das egal. Sie hatten ihren Spaß - oder zumindest wurden sie neugierig. Sie engagierten sich als Zuschauer am Boxring; sie hörten der Ernährungswissenschaftlerin zu, sie erfreuten sich an den auch ihnen ausgehändigten Kopfhörern. Kinder sind neugierig - eine wichtige Voraussetzung für Integration. „Es wird nicht einfacher / im Melting Pot / ist ganz gut was los“, singt Kamerun einmal. Die neugierigen Kinder sind da Hoffnungsträger. Wenn das Viertel denn überhaupt der Hoffnung bedarf: Viel näher als in der Aufführung kam es dem früh angereisten Rezensenten bei seinem Rundgang vor der Aufführung, vorbei an ungezählten Döner-Buden und christlichen Kirchen, über einen von allenfalls rauem Charme geprägten Kinderspielplatz zu alternativen Lokalen und Künstlerbuden, ärmlichen, unterschiedlich gepflegten Mehrfamilienhäusern. „Ein schönes Wochenende“ wünschte eine fröhliche junge deutsche Frau der älteren türkischen Kioskbesitzerin, mit der sie offenbar einen längeren Klönschnack gehalten hatte. Die strahlte und zog sich wieder hinter ihr Kioskfenster zurück. Es könnte ganz schön sein im künftigen Szene-Viertel Nordstadt, wenn man es nicht mehr aus den Fenstern eines geschlossenen Containers betrachten muss, sondern teilhaben darf am Leben. Raus aus dem Container und rein in die Straßen - das wäre sicher das bessere Konzept für diesen Theaterabend gewesen - ob mit Kopfhörern oder ohne.