Kohlkopfmassaker
Wie er hineinschleicht, Koffer in der Hand, zaghaft, zaudernd, fremdelnd, macht ihn schon zum Außenseiter. Sakko, leichter Mantel, Kappe – da steht er, als sei er ein handlungsreisender Hausmeister. Gestrandet in einem altmodischen Wohnzimmer, inmitten sich ein Tisch mit allerlei Krimskrams findet, dazu ein Mikro und am Rand mehrere Tonbänder. Voilà: der neue Arbeitsplatz des großen Filmgeräuschemachers Maximilian Schall. Einer scheinbaren Koryphäe, die sich als ziemlich verklemmt erweist und regelmäßig Briefe von seiner besorgten Mutter erhält. Eigentlich ist er ja bloß für Naturfilme zuständig, doch nun wird er unwissentlich hineingestoßen in die harte Welt der Horrorstreifen. Im fernen Italien. Schall ist verstört, entsetzt, sprachlos zunächst.
In Jörg Buttgereits neuer Produktion für das Schauspiel Dortmund, Im Studio hört Dich niemand schreien, steht Uwe Rohbeck als Schall auf der Bühne. Gibt einen Mimen der gewissenhaftesten Art: Jede minimale Änderung seiner Gesichtszüge steht für virtuosen Wechsel der Empfindungen. Jedes Wort fließt mit Bedacht. Rohbeck ist die verbale Defensive, ein Mann, der sich nur gelegentlich was traut und meistens dreinfügt. Hier spielt aufs Schönste ein Antiheld der traurigen Gestalt, hineingeworfen in eine künstlich schillernde, fremde, affektiert laute Filmwelt, die in vielerlei Hinsicht nur eines erregt: Ekel.
Auf Schall, den Bedächtigen, den Sensiblen, fokussiert sich das Geschehen, ihn umschwirren die „Stars“ in teils schleimiger, teils bedrohlicher Manier. Allen voran Dario Winestone, ein großspuriger Filmemacher des „Schlitzer“-Genres, wie er es selbst nennt. Die abgründigen, perversen, roh-brutalen Szenen, die er aneinanderreiht, sind ihm Kunst. Ekkehard Freye gibt ihn als kaltblütigen Boss ohne Selbstzweifel, der jedoch offenbar schon auf dem absteigenden Ast sitzt.
Um sich herum seine zweite Frau Janet Lee Curtis (Caroline Hanke, stets etwas blasiert), Tochter Asia (Alexandra Sinelnikova, vorgeblich emanzipiert) und Sohn Rock (Christian Freund, auf Gigolo abonniert) sowie Eva Leone, reichlich genervtes Mädchen für alles (Marlena Keil, Vamp mit Herz). In erster Linie sprechen sie die Filmrollen und schreien, was das Zeug hält. Hier, im Dortmunder Studio, fährt uns das horrible Gekreisch bisweilen bis ins letzte Gebein, und doch, manchmal hat das Ganze etwas Komisches. Wenn die Mimen ächzen und stöhnen, während Uwe Rohbeck angewidert einen Kohlkopf mit dem Messer massakriert, wenn er Fledermausgeflatter mit einem Handschuh imaginiert oder sogar einen lüsternen Zwerg ins Mikro hechelt, ist es mit dem Grusel schnell vorbei.
Dabei meint es Jörg Buttgereit mit seinem Stück durchaus ernst. Die Szenen des ziemlich kruden Drehbuchs um Folter, Schändung und Erniedrigung sind allesamt große Verbeugung vor dem italienischen Genre des „Giallo“-Films der 1970er, eine Hommage an Regisseure wie Peter Strickland oder Dario Argento als Vertreter des kunstvollen Horrors jenseits primitiver Zombiestreifen. Musikalisch zitiert Buttgereit den großen Ennio Morricone („Spiel mir das Lied vom Tod“), in einer Szene verneigt er sich vor Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“.
Vielleicht liegt es ja an der gelegentlich wilde Volten schlagenden Rahmenhandlung, zusammen mit der von Susanne Priebs eingerichteten Schmuddelbühne, dass bei allem Ernst ein Hauch von Boulevard durchschimmert. Dennoch wendet sich das Stück am Ende ins Tragische: Uwe Rohbeck, der als Schall wunderbar poetisch über den heimischen Zilpzalp und die Elster referieren kann, muss erfahren, dass zuhause die großen schwarzweißen Vögel die kleinen gefressen haben. Er wirft den Mixer an. Ja, die Natur kann grausamer sein als die schrecklichste Vision.