Übrigens …

Die Parallelwelt im Dortmund, Schauspielhaus

Neu formatiert

Zweier Theater - des Berliner Ensembles und Dortmunder Schauspiels -, ihrer Distanz von einigen hundert Kilometern und logistischer wie technischer Hochkompetenzen bedarf es zur Realisierung einer simultan von einer Stadt in die andere übertragenen Uraufführung, die sich als auf quantentheoretischen Erkenntnissen basierende mediale Pioniertat erweist.

Über nervenkitzelnde Science-Fiction hinaus sind Paralleluniversen seit Ende der 1950er Jahre Gegenstand ernsthafter physikalischer Forschung. Mit dem 2006 auf Deutsch erschienenen Buch Verborgene Welten der Harvard-Forscherin Lisa Randall erfuhr das Thema seine populärwissenschaftliche Aufarbeitung.

Physiker, die sich - vorerst rein mathematisch - mit parallelen Universen beschäftigen, gehen davon aus, dass in den nach ihrer Auffassung zahllosen synchron existierenden Welten sowohl ganz andere als auch den unseren gleichende Naturgesetze herrschen können.

Im Fall der Parallelwelten im Berliner Ensemble und Dortmunder Schauspiel differiert lediglich die Richtung des Zeitstrahls. Um die nebeneinander existierenden Universen hervorzubringen, verbindet die beiden Bühnen eine eigene die Distanz von 420 Kilometern Luftlinie überbrückende Glasfaserleitung, durch die visuelle Informationen mit Lichtgeschwindigkeit schießen, was den Schauspielern in beiden Städten zudem ermöglicht - falls erfordert - zu interagieren. Dass die synchronen Verläufe technisch realisiert werden, bedeutet eine eminente Leistung, für deren Bildregie und Licht Voxi Bärenklau verantwortlich zeichnet, das Videodesign in den Händen von Mario Simon und Robi Voigt liegt sowie Netzwerk-Ingenieur Dominik Bay mit den für den Liveschnitt der Videos zuständigen Domenik Wolf und Mario Simon beitragen. Freilich um den Preis von die Akteure in Schlüsselszenen oft verdeckenden oder überschneidenden Kameraleuten.

Zentrale Figur beider Parallelwelten ist Fred. Er, wie sein gesamtes Umfeld, gehört der gehobenen Mittelschicht an. Während Freds Berliner Leben in gewohnter Folge von der Geburt zum Tod verläuft, zeigt sich auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels die umgekehrte Reihenfolge. Am Anfang steht Freds Sterben, final seine Geburt. Zu den jeweils sieben Lebensstationen in den beiden Paralleluniversen zählen ferner Kindheit, erste Liebe, Heirat, Trennung und Alter. Das Leben der Zentralfigur kulminiert in der Hochzeit. Ausgerechnet hier führt ein Interferenzen zwischen den parallelen Welten erzeugender Riss in der Raumzeit beiderseits zu erheblichen Konfusionen.

Der letzte zugleich dramaturgisch schwächste Teil des Abends blendet in Startreckmanier multiple Paralleluniversen unablässig ineinander über.

Die Berlin-Dortmunder Gleichzeitigkeit treibt das postdramatische Theater bis zum Äußersten vor. Eine Lebensgeschichte zu schildern, weist selbsterklärend auf Epik. Auch sind die theatralischen Mittel enthierarchisiert. Der Text fungiert lediglich als Element unter gleichrangigen Komponenten, vor allem visuellen und technischen. Das finale Phantasieidiom, in der die beiden Fred als Neugeborenes und Sterbender kommunizieren, lässt Sprache und Semantik auseinander driften. Bei der Leichenwäsche hat Körperlichkeit das Textsubstrat längst abgestreift.

Virtuos bedient sich Kay Voges aus einem reichen Fundus an Theatralik. Im eigenen Haus platziert der Dortmunder Schauspielchef Freds Sterbeszene auf dem schmalen Grat zwischen Realismus und Stilisierung, wo die körperlichen Konvulsionen der Todesnot von einer Krankenschwester begleitet werden, die eher einen sakralen Ritus vollzieht denn eine medizinische Dienstleistung. Meist aber präsentiert sich das bürgerliche Leben in den Paralleluniversen wie versiert in Szene gesetzte Retardationen bei Ibsen. Es fehlt auch nicht an Groteskem. Die Hochzeit besonders in der Berliner Variante bietet über weite Strecken brillanten Boulevard, wie ihn darauf spezialisierte Bühnen niemals realisieren könnten. Dem Affen spendiert Voges also reichlich Zucker. Freds Verflossene zieht die Schrödingersche nun verblichene Katze aus dem Geschenkkarton.

Kinomäßig füllt Daniel Roskamp das Bühnenportal mit einer klinisch weißen Projektionsfläche für die simultanen Filmsequenzen aus Berlin und Dortmund, die immer wieder zwei in eben dieser Nichtfarbe gehaltene Räume freigibt. Deren durch und durch bürgerliches Interieur präsentiert sich so konkret wie nötig und abstrakt wie möglich, daher lassen sich die Räume durch den Austausch der Requisiten rasch umfunktionieren.

Präzise und in zahlreichen anlassbezogenen Facetten führen die Kostüme von Mona Ulrich das gehobene Mittelschichtsmilieu vor Augen.

Stupend bewältigen beide Ensembles die besonderen Herausforderungen des Formats. In Dortmund verleiht Uwe Schmieder der Agonie Freds ungeheure mimische Intensität und körperliche Gegenwart. Dem greisenhaft Neugeborenen schenkt er jenes Engelslächeln, das die abstoßendste Hässlichkeit aufwiegt. Zudem beweist Schmieder sich als pointensicherer Physiker. Andreas Beck zeigt die skurrilen Seiten der zum Pflegefall gewordenen Zentralfigur. In Berlin gibt Annika Meier eine Braut, deren verwirrte Schauspielerarie sich immer weiter in die Spirale des drohenden Identiätsverlusts hineinschraubt. Stephanie Eidt zeichnet Freds Mutter mit der Attitüde einer Mittelschichtsdiva. Josefin Platt ist eine dialogstarke Physikerin und erfüllt Freds dramaturgisch schwache Berliner Sterbesequenz erst mit Substanz.

Darf Die Parallelwelt unter Theater firmieren? Stärkstes Argument dafür sind die Livesituationen. Dennoch steht die materielle Gegenwart der Figuren und Dinge nicht im Vordergrund. Weil oft Kameraleute die Akteure verdecken oder überschneiden, richtet das Publikum seine Blicke selbst bei Sequenzen, die vor Ort gedreht werden, auf die Projektionsfläche - das cineastische Resultat. Die Bühne wird zum Filmstudio, in dem ein Echtzeitfilm gedreht und dessen Entstehung vom Publikum beobachtet wird. Wobei sich diese Art von Kino an das Theater zurückbindet. Denn der Echtzeitfilm fordert bühnenpräsente Schauspieler, die von vornherein ihre Figuren auf das Ganze hin konzipieren und die im Gegensatz zu ihren auf das Kino üblicher Machart fokussierten Kollegen wissen, dass ihnen die Livebedingungen keine zweite Chance gewähren.

So spricht vieles dafür, in Die Parallelwelt exakt jenen Schritt zu sehen, der die Vereinigung von Postdramatik und Film vollzieht. Mit dem neuen Genre folgt auf den Teilchenzirkus das Quanten-Filmtheater.