Ermordet ist die Liebe, die Wahrheit tot
In diesen Zeiten ist einer mieser als der andere. Die Welt ist aus den Fugen. Um das überzeugend, ja geradezu mitreißend zum Leben zu erwecken, braucht es Phantasie und Einsicht in die tiefsten Abgründe menschlicher Schamlosigkeit und Bosheit.
In Mülheim an der Ruhr gibt es einen, dessen genialer Zugriff jetzt einen Othello auf die Bühne zauberte, der das Theater einmal mehr ungemein bereichert. Mit seinem Dramaturgen Helmut Schäfer hat Roberto Ciulli, dieser mittlerweile 84-jährige geniale Bild-Erfinder, Shakespeares Mohren so ins Heute versetzt, dass es unter die Haut geht. Die einzige reine Seele, naiv im Glauben an vermeintlich beste Freunde und die Güte der Welt, tötet aus falscher Eifersucht seine große Liebe Desdemona. Die schmierige, verkommene Welt um ihn herum, mit Brabantio, Jago und Cassio, bleibt schließlich Sieger. Auch über die Frauen. Denn am Ende hängen Desdemona, von Othello in einem weißen Vorhang erstickt, und Emilia, Jagos Frau, die die Intrigen ihres Mannes offenkundig gemacht hat, leblos nebeneinander über einer blutroten Couch, die zentraler Ort der Handlung ist.
Auf ihr sitzen zu Beginn, lange schweigsam und hinter Sonnenbrillen versteckt, vier Vertreter einer überkandidelten Gesellschaft. Jago, der aasigste von ihnen, dem Steffen Reuber alle Ingredienzen eines schmierigen Ekels mit auf den Weg gibt; Cassio, dem Fabio Menéndez die gelangweilte Geistlosigkeit eines Mafioso verleiht. Dazu Emilia, bei Petra von den Beek eine schwarz gewandete gelangweilte Dame; und Dagmar Geppert, eine auch nicht gerade sehr seriös wirkende Desdemona. Ein Quartett, das ahnen lässt, was kommt und wie alles endet: in der Katastrophe der Moral und vorgeblich westlicher Werte. Wenn dann noch Klaus Herzog als Desdemonas Vater Brabantio im schwarzen Zweireiher und gegeltem Haar auftaucht, winkt von weitem der sizilianische Pate.
Eine Gesellschaft langweilt sich zu Tode. Bis der auftaucht, der die abgrundtiefe Verachtung alles Humanen aufdeckt: der Schwarze Jubril Sulaimon, der als „echter“ Schwarzer in dieser Inszenierung alle Argumente zunichte macht, Othello sollte nicht von einem „Mohren“ dargestellt werden. Er macht nämlich klar, dass uns das Fremde näher sein kann als das vermeintlich Nahe. Grandios lässt er erkennen, wie ihn Gutgläubigkeit und Naivität ins Verderben schicken. Wie übrigens auch die Frauen, die hier nicht weniger „schwarz“ sind als die mörderische Lichtgestalt Othello.
Ein Abend und eine Inszenierung, die keine Sekunde lang loslassen; auch weil Ciulli ein grandios agierendes Schauspieler-Sextett aufbieten kann. Was bleibt, ist eine Inszenierung, die Ciulli einmal mehr als einen der ernsthaftesten Theater-Zauberer hierzulande ausweist. Ausgestattet freilich mit einer Ernsthaftigkeit, die mit leichter Hand daherkommt. Denn hinter dem Theater-Schein ist stets auch Ciullis Hoffnung erkennbar: dass es nicht so schlimm kommen möge.