Die Krankenschwester und der Kommunist
„Wie erzählt man von jemandem, der zwei Leben hatte?“, fragt der Autor und Regisseur Christian Franke, und kommt zu dem Schluss: „Man gibt ihm ein drittes.“ Fritz Giga, um den sich Frankes Theater-Erzählung dreht, ist eine reale Figur der Oberhausener Stadtgeschichte. Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei, als die Nationalsozialisten an die Macht kommen. Im Jahre 1934 wird er festgenommen und als potentieller Hochverräter verhört und gefoltert. Die SA schlägt ihn bewusstlos, brennt ihm ein Hakenkreuz auf den Bauch und wirft ihn aus dem 3. Stock des Polizeipräsidiums. Die Zeitungen berichten vom Tod eines feigen Staatsfeinds auf der Flucht vor den gerechten Richtern. Doch Fritz Giga hat überlebt. Die SA überprüft regelmäßig seine Transportfähigkeit aus dem Krankenhaus. Sie will ihn tot; sie will ihn vielleicht auch weiter verhören. Eines Tages wird Giga von SA-Männern gewaltsam aus dem Krankenhaus abgeführt. Doch es wird sich herausstellen, dass die „Entführer“ seine Freunde sind, verkleidete Kommunisten, die ihm zur Flucht verhelfen.
Fritz Giga, der seinen ersten Tod auf unwahrscheinliche Weise überlebt hat, stirbt wenige Jahre später als Kämpfer wider den Faschismus im Spanischen Bürgerkrieg. Ihm waren zwei Leben beschieden, beide allzu kurz. Christian Franke hat ihm mit seiner aus dokumentarischen Recherchen, Gesprächen mit Gigas Nachfahren und fiktiven Elementen zusammengesetzten Geschichte ein drittes Leben geschenkt, dem hoffentlich eine lange Dauer beschieden ist. In Frankes Ein-Personen-Stück tritt die Titelfigur Giga gar nicht auf. Zur Protagonistin wird die Krankenschwester, die den zusammengeschlagenen und gefolterten Giga pflegte und nach ihrer auf dem Prinzip der Sippenhaft beruhenden Entlassung aus dem Krankenhausdienst Köchin in der Rathaus-Kantine wurde: Martha, eine einfache Frau aus dem Volk, eigentlich unpolitisch, aber auch sie aus einer kommunistisch geprägten Familie stammend. Sie bringt neben den grotesken, politkrimihafte Züge tragenden Geschehnissen um Fritz Giga die Erfahrungen der kleinen Leute im Hitlerreich ein und verleiht dem Stück eine zweite Dimension.
Anna Polke ist diese Martha. Schon weit vor Beginn der Aufführung fegt sie wieder und wieder den Boden der ehemaligen Kantine im Rathaus: Das Theater Oberhausen hat die Geschichte an dem Ort in Szene gesetzt, an dem Martha nach dem Krieg Arbeit gefunden hat. Das unablässige Bemühen um Ordnung und Sauberkeit, die Sehnsucht nach Persil und Sunlicht-Seife mag für Martha der Anker im Kampf um die Verdrängung der unsauberen Vorgänge im Nationalsozialismus sein. Mit dem Besenstiel stellt Martha die große Wanduhr: auf fünf vor zwölf. Man kann darüber streiten, ob es in der deutschen Geschichte noch fünf vor zwölf oder nicht vielmehr fünf nach zwölf war, als endlich die amerikanischen Truppen Oberhausen einnahmen und die Stadt von der Nazi-Herrschaft befreiten: persilweiß waren die Laken jedenfalls nicht, die die Bürger zum Zeichen der Kapitulation aus den Fenstern hängten. Das war die Folge der Knappheit an akzeptablen Waschmitteln, erscheint im Theater aber auch als Metapher für die Reinheit des Denkens der Bevölkerung: In der einen oder anderen Form war schließlich jeder von der nationalsozialistischen Ideologie oder dem Zwang zum Mitläufertum infiziert. Doch alle Figuren (mit Ausnahme der SA-Leute) werden mit Wärme und Verständnis geschildert. Martha erzählt von ihrem Ehemann Horst, einem mediokren Mitläufer, der sie auch schon mal schlug, aber wenigstens bei den Bombenangriffen eine Schulter zum Anlehnen bot. Sie kommt ins Gespräch mit dem Leichen einsammelnden Bestatter Willy, der bei der plötzlichen politischen Wende ebenfalls argumentativ ins Schlingern zu geraten scheint. Dr. Espenlaub, der behandelnde Krankenhaus-Arzt von Fritz Giga, verdankt seinen Spitznamen seiner unendlichen Angst vor der Verfolgung, weil er mit einer jüdischen Ehefrau verheiratet ist. Martha berichtet von ihrer betagten Nachbarin, einer glühenden Anhängerin des nationalsozialistischen Systems, die in ihrer beginnenden Demenz noch gar nicht mitgekriegt hat, dass der Krieg zu Ende ging. Martha wird ihr dies auch nicht mehr erzählen: Sie erleide sonst ja einen Schock und sei eh zu alt für eine Entnazifizierung.
Anna Polke stattet die Figur der Martha mit einer gehörigen Portion von Mutterwitz und Bauernschläue aus, vermag der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der so gefährlichen wie unabänderlichen Tatsachen stehenden Person aber auch berührende Momente zu verleihen: In subtilen Andeutungen, unterstützt durch einen leicht-luftigen Schlager aus den 1930ern, lässt Polke durchblicken, dass Martha, die einfache Frau mit dem guten Herzen, eine tiefe Zuneigung zu dem schwerverletzten kommunistischen Widerstandskämpfer fasst, ja vielleicht sogar so etwas wie Liebe empfindet. Das in die Bauchdecke eingebrannte Hakenkreuz hat ihr politisch die Augen und menschlich die Seele geöffnet. Auch Martha hat Angst vor den Schergen des Regimes. Aber sie blafft sie an, beim nächsten Krankenhaus-Besuch doch aus hygienischen Gründen die Stiefel auszuziehen.
Nach der Hälfte der 80minütigen Aufführung bittet uns Anna Polke in die ehemalige Küche der Rathauskantine, einen engen Raum, der behutsam mit Requisiten aus den 1930er bis 1950er Jahren ausgestattet ist. Die Inszenierung, die zuvor in einigen (wenigen) Momenten ins Moritatenhafte abzugleiten und das grauenvolle Geschehen allzu harmlos abzuhandeln drohte, spitzt sich atmosphärisch zu. In einem bedrückenden, geradezu spookigen Bild berichtet sie vom Besuch von Gigas Mutter im Krankenhaus und der Nähe, die sich so zwischen Martha und Fritz‘ Mutter einstellt, von den Bombenangriffen auf Oberhausen und den Reaktionen der Menschen in den Schutzbunkern, die auf die unterschiedlichste Weise mit ihren Ängsten umgehen. Zurückgekehrt in den ersten Raum, nehmen wir an Kantinentischen Platz, an denen wir im Anschluss an die Aufführung eine gut gewürzte Kartoffelsuppe genießen dürfen. Hungern wie die Menschen im und kurz nach dem Krieg werden wir an diesem Abend nicht. Zuvor aber wird der Raum abgedunkelt. Martha, die Frau aus der Arbeiterklasse, die bisher mit einfachen Worten die Gräuel der Nazi-Zeit beschworen hatte, berichtet nun von ihren Alpträumen. Es ist wohl der intensivste Teil des kurzen Abends. Nichts ist mehr mit der einfachen Sprache: Christian Frankes Text bekommt nun etwas Lyrisches, fast Expressionistisches. Assoziativ tauchen in Marthas Alpträumen Motive aus ihren Gesprächen mit Nachbarn und Passanten auf, aus ihren Erlebnissen in Krankenhaus und Kantine. Von Ängsten – und vom Schmutz: von der „schwarzen Milch des Morgens am Abend“. Ja, die einfache Kantinenköchin findet in ihren Alpträumen zu ähnlichen Bildern wie Paul Celan in seiner Todesfuge: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und nachts…“. Und, ja, auch dieses Zitat klingt kaum verfremdet in Marthas Träumen an: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.“