Übrigens …

Candide oder der Optimismus im Bonn, Theater

Kein Eldorado

Ich vermute, alle, die nach Macht streben, nehmen ein schlimmes Ende“, sagt der Inka-Herrscher nachdenklich. Candide ist auf seiner Weltreise in Eldorado angekommen, dem einzigen Ort, an dem er auf moralisch halbwegs integere, selbstgenügsame Menschen trifft. Sein Gefährte Cacambo bliebe gerne dort, doch Candide treibt ihn weiter auf der rastlosen Suche nach seiner westfälischen Geliebten, der schönen Kunigunde. Treibt ihn weiter durch „die beste aller möglichen Welten“, die voller Herrschsucht, Krieg und Katastrophen ist.

Es war der Universalgelehrte Leibniz, der Anfang des 18. Jahrhunderts in seiner Theodizee die Behauptung aufstellte, Gott habe die beste aller möglichen Welten geschaffen. Er bezieht sich dabei auf ihren „Reichtum an Momenten“ und ihre „Mannigfaltigkeit“. Außerdem sei es mit der Vollkommenheit Gottes unvereinbar, wenn dieser etwas anderes als eine vollkommene Welt geschaffen hätte. Da staunt der regelmäßige Konsument der Weltnachrichten, und schon Voltaire war der Auffassung, dieses Argument sei eher eine Lachnummer. Sein Roman Candide oder der Optimismus gilt als funkelnde Satire auf die Theodizee von Leibniz und als einer der gedankenschärfsten Prosatexte des Aufklärers.

Candide wächst in Westfalen auf: im Schloss des Barons von Thundertentronckh. Dort hat er vor allem zwei Bezugspersonen: Da ist sein Lehrer Dr. Pangloss, der ewige Optimist und in dieser Hinsicht Wiedergänger von Leibniz. Auch Pangloss verkündet, dass man in der besten aller Welten lebe. Und da ist das beste Mädchen aller Welten, Thundertentronckhs Tochter Kunigunde. In der besten aller Welten führt ein Kuss zum Rausschmiss aus dem Schloss: Candide wird in die reale Welt katapultiert, und auch Kunigunde findet sich dort wieder, als sie kurze Zeit später gefangen genommen und verkauft wird. Candide macht sich auf die Suche nach dem holden Weib und reist von Kontinent zu Kontinent, um so ziemlich alle Katastrophen zu erleben, die dieser Erdball für einen Menschen bereithält. Er erlebt den Krieg in der bulgarischen Armee, das Erdbeben von Lissabon, ein Ketzergericht der Heiligen Inquisition, Missbrauch und Zwangsprostitution, die Ausbeutung von Galeeren-Sklaven, körperliche Züchtigung, Habgier, Diebstahl und Bosheit. Dabei reist er von Westfalen nach Osteuropa und zurück in den Westen, von Spanien nach Lateinamerika, nach Eldorado, Surinam und Venedig und landet schließlich in Konstantinopel. Begleitet wird er auf dem größten Teil seiner Reise von dem treuen Gefährten Cacambo, später auch von dem weisen, aber pessimistischen Martin. Beide verkörpern das Gute auf der Welt. Doch wenn man es recht besieht, ist überall Schiffbruch (den erlebt er natürlich ebenfalls, und zwar am eigenen Leibe), und irgendwann begreift selbst Candide, dass es um die beste aller Welten nicht allzu gut bestellt ist. Um seine Kunigunde übrigens auch nicht: Als er sie endlich findet, ist sie hässlich und entstellt. Er heiratet sie trotzdem, und sie werden halbwegs glücklich, denn sie arbeiten – physisch auf ihrem Landgut, aber Candides Aufforderung ist natürlich metaphorisch gemeint: „Wir müssen unseren Garten bestellen.“

Das Ganze ist ein ziemlich abenteuerliches Roadmovie, und hätte es nicht den satirisch-philosophischen Hintergrund, ginge es glatt als eine etwas grausamere Variante von Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt durch. Vordergründig inszeniert Simon Solberg das auch so. Hat Leonard Bernstein aus dem Stoff einmal eine „comic opera“ gemacht, so inszeniert Solberg ihn als Musical mit kräftigen Anleihen an die Rock-Oper. Und auch wenn die Schauspielerinnen und Schauspieler nicht höchsten sängerischen Ansprüchen genügen (diesbezüglich am überzeugendsten: Annina Euling als Zofe und Paquette), gelingt das auf eine stets unterhaltsame, manchmal gar mitreißende Art und Weise. Der Kriegszug mit den Bulgaren geht als zuckendes Heavy Metal Konzert vonstatten; wenn mit den unschuldigen Ketzern, die das Lissa-Bonner Erdbeben verursacht haben sollen, kurzer Prozess und ein heiliges Feuer gemacht wird, erklingt sakrale Musik; Candide wird im Takt von frommen Liedern ausgepeitscht, und manche Naturkatastrophe unterbricht die bisweilen etwas banalen Musical-Songs mit Strobolight und brachialem Sound.

Der Star der Aufführung ist die Bühne: anfangs nichts als eine schwarze Schräge, auf der nicht nur der wie ein Zauberer ausgestattete Dr. Pangloss mit seinem naiven Optimismus gelegentlich ins Rutschen kommt, erweist sich die vom Regisseur höchstselbst entworfene Konstruktion bald als ein Meisterwerk der Variabilität. Sie wird zur Galeere, zum Urwald, zum Haus und sogar zu einem ausgewachsenen Dorf mit mehreren Hütten, und wenn wir uns im wohlhabenden Eldorado befinden, ist die schwarze Fläche unmerklich mit feinem Goldstaub überzogen. Die Schauspieler sind von eher heterogener Qualität: Während Annika Schilling als Kunigunde eine Leerstelle in der Inszenierung bleibt, meistert Wilhelm Eilers die Herausforderung vieler unterschiedlicher Rollen vom altmodischen, aber optimistischen Lehrer Pangloss bis zum bigotten Großinquisitor glänzend. Daniel Stocks Candide steht über mehr als zweieinhalb Stunden unter Dauer-Strom, aber es ist Timo Kählert, der einem im Verlauf der Aufführung am meisten ans Herz wächst: Sein Cacambo ist der treue Geselle mit naiv erscheinendem, tatsächlich aber verschmitztem Humor, der stets ein wenig unterspielt und so den meist etwas aufgeregten Candide wunderbar kontrastiert. Nur einmal fährt er aus der Haut – nicht wütend, eher verzweifelt: Kunigunde muss auf der Galeere arbeiten, und Cacambo wird von Candide aus dem bequemen Eldorado-Paradies vertrieben, um sie unter größten Anstrengungen und Gefahren zu retten. Da realisiert er sein ungerechtes schweres Los: „Warum immer ich?“, schreit er, und „warum immer dieses Geld?“

Womit wir bei der inhaltlichen Qualität von Simon Solbergs Arbeit wären. Zwangsläufig führen die Musical-Struktur der Inszenierung und die unzähligen Stationen dieses archaischen Roadmovies dazu, dass die Geschichte recht holzschnittartig erzählt wird. Trotz aller szenischen Phantasie leiden manchmal auch Witz und Humor unter dieser holzschnittartigen Struktur. Zwangsläufig haben die Abenteuer, die Candide und Cacambo bestehen müssen, etwas von Dschungelbuch, Jules Verne oder Schatzinsel. Aber Solberg vergisst nicht die Absicht von Voltaires Satire: den Menschen die Augen zu öffnen, dass die beste aller Welten noch Lichtjahre entfernt und vermutlich nur eine realitätsferne Utopie ist. Und er vergisst nicht, dem aufmerksamen Zuschauer ein paar Seile aus der Galeere zuzuwerfen, an denen er sich aus dem 260 Jahre alten Märchen in die Gegenwart hangeln kann. Er erzählt von Missständen, die heute nicht weniger aktuell sind als zu Zeiten von Leibniz und dem knapp fünfzig Jahre jüngeren Voltaire. Er erzählt von Kriegen und der Unmoral der Sieger, von nationalistischer Asylpolitik und der Unterdrückung des freien Willens sowie von Machtmissbrauch und sexueller Ausbeutung, und er übt Religions- ebenso wie Kapitalismuskritik. Manchmal ganz versteckt zwischen in der spannenden Abenteuerhandlung, manchmal ganz plakativ, wenn zum Beispiel dem Großinquisitor, der sich mit dem Kaufmann die schöne Kunigunde als Maitresse teilt, ein Kreuz zwischen den Beinen baumelt. Die katholische Kirche pflegt solche Fälle bis heute zu vertuschen …

All das wünschte man sich gelegentlich ein wenig schärfer formuliert. Das ist in einem „musikalischen Schauspiel“, wie Solberg seine Inszenierung nennt, wohl zu viel verlangt. Doch Solberg hängt an den Schlusssatz von Voltaires Roman eine Erinnerung an unsere Pflicht zum Ungehorsam an: „Wir müssen unseren Garten bestellen. Nichts zu tun, das ist es doch, das uns in unserer Unmündigkeit hält. Und das nützen die anderen gern aus. Die wollen alle nur, dass wir gehorchen.“