Übrigens …

Caligula im Theater Duisburg

You can’t shoot down the moon

 

You can’t shoot down the moon

 

Some things never change

(Bernie Taupin / Elton John)


Caligula kennt seine Marlene Dietrich, er spielt ein Ave Maria auf der Blockflöte, und Drífa Hansen singt ihm eine wunderschöne Bach-Kantate. Aber Elton John kennt er nicht. Caligula möchte die Ordnung der Welt verändern: Er möchte den Mond in Händen halten, er will, dass die Sonne im Westen aufgeht und dass die Menschen nicht mehr sterben. „Mit verrückten Kaisern haben wir Erfahrung genug, aber dieser Kaiser ist nicht verrückt genug“, sagt Cherea: „Er stellt alles in den Dienst einer höheren Sache. Das erschreckt mich.“

Dass die Menschen nicht mehr sterben? Das soll Caligula sein, der römische Kaiser, der in die Geschichte einging als klassischer Vertreter einer blutrünstigen, egozentrischen Willkürherrschaft, als Impresario von lebensgefährlichen Zirkusspielen, Mord und schrankenlosem Sex? Und was soll die „höhere Sache“ sein, in deren Dienst der rücksichtslose Potentat sein Handeln stellt? - „Die Menschen weinen, weil die Dinge nicht so sind wie sie sein sollten“, klagt Constanze Becker in der Titelrolle in Antú Romero Nunes‘ Inszenierung vom Berliner Ensemble, die jetzt am Theater Duisburg gastierte. Caligula, so heißt es bei Camus, „wollte ein Gerechter sein.“ Das geht furchtbar schief, weil der Herrscher über den Tod seiner über alles geliebten, ihm auch inzestuös verbundenen Schwester verrückt wird. Weil er körperlich darunter leidet und andere ebenfalls leiden sehen will: „Verzweiflung ist keine Krankheit der Seele. Was leidet, ist der Körper.“ - Doch gar so verrückt ist Caligula nicht: Er sieht, dass die Welt verrückt ist. Er sieht die Absurdität der Weltordnung und deren Zumutungen für den Menschen. Er setzt sich an die Spitze dieser Verrücktheiten, Absurditäten und Zumutungen: Der Machtmensch Caligula ergreift die Flucht in ein brutales, scheinbar gefühlloses Verhalten und in den Nihilismus und kommt zu dem Schluss, dass die ganze Weltordnung umgekehrt werden muss: Just shoot down the moon …

Constanze Beckers Caligula ist nicht gefühllos. „Wie alle, die keine Seele haben, neigt er zu denjenigen, die zu viel Seele haben“, bemerkt Caesonia einmal. Beckers Caligula leidet. Manchmal so, dass Becker kreischt, häufiger so, dass Becker weinerlich wird. Oft ist Becker einfach nur ein präpotentes, ungezogenes, etwas kokett-selbstverliebtes Kind. Das Dumme ist, dass Becker, einer der vielleicht größten Tragödinnen des deutschsprachigen Theaters, Weinerlichkeit und Schreien nicht steht. Und als ungezogenes Kind geht die große 40jährige Frau auch nicht mehr durch. Auf solche Weise wird die Sehnsucht des Kaisers nach einer neuen, besseren (?) Weltordnung nicht beglaubigt. Nur die beißende Ironie, die Becker ihrem Charakter gelegentlich mitgibt, passt zur Figur des Caligula - und natürlich die vielen Liter Theaterblut, die sie verspritzt oder die von Beginn an in den Kleidern kleben. Auch der Zynismus und die Willkür des Kaisers gehen viel zu häufig in den unzähligen Mätzchen von Nunes‘ Inszenierung unter. Die Kostümbildnerin Victoria Behr hat alle Figuren als Clowns ausgestattet - auch Constanze Becker, die den Oberclown im Purpurmantel spielt. Nur den Scipio darf Patrick Güldenberg ab und an auch einmal in heutiger Freizeitkleidung geben, was wohl ein Hinweis auf die gebrochene Figur des jungen Dichters sein soll, der dem früheren Caligula nahestand, einstmals dessen Schützling war und sich noch nach dessen Wandlung zum grausamen Tyrannen nur halbherzig gegen ihn wenden kann. Er ist der Mann, der Skrupel hat, wenn es gilt, die Stadt vom Tyrannen zu befreien, und der den Dolch im Gewande nicht tragen will: „Wenn ich ihn tötete, wäre wenigstens mein Herz für ihn.“ Da ist der Mensch, der noch etwas Gutherziges in sich trägt - ob sein Abtauchen die richtige Lösung in einem Tyrannenstaat ist, mag dennoch fragwürdig sein.

Natürlich, Caligula ist der Böse - der Böse im Clowns-Kostüm. Constanze Becker trägt nicht den Dolch im Gewande, sondern die Kettensäge - aber auch gleichzeitig die Blockflöte. Sind die anderen nur die Ratlosen, Verzweifelten, die schließlich zur einzig möglichen Lösung zur Beendigung der Tyrannenherrschaft greifen, zum Mord an dem Massenmörder? In Nunes‘ Inszenierung wirken auch die übrigen Clowns nicht nur ratlos, sondern zumindest zwielichtig. Doch allzu unpräzise ist die Inszenierung in ihrer Charakterzeichnung. Oliver Kraushaar als Caligulas Geliebte Caesonia wirkt ein bisschen tuntenhaft; vielleicht ist es auch eine Umkehrung der traditionellen Geschlechterverhältnisse, dass sich der männliche Caesonia von der weiblichen Caligula voll Willkür herumkommandieren lässt. Felix Rech als Cherea wirkt ein bisschen entschlossener als die anderen. Aber als Charakterstudie taugen alle nicht: Hängen bleibt neben Beckers Caligula höchstens Annika Meier als „Patrizier“. Sie wirkt wie das geschundene Volk.

Meier mahnt die fehlenden Charaktere an. Sie meint dies natürlich nicht im Hinblick auf die Schauspiel- oder Inszenierungskunst, sondern auf die Politiker: „An Kaisern fehlt es uns ja nicht. Uns fehlt es an Leuten mit Charakter.“ - „Regieren heißt Stehlen“, sagt Caligula bald, und wenn dieser Vorwurf an manchem populistischem Stammtisch unserer Tage noch vehemente Zustimmung finden dürfte, schlüge möglicherweise auch dort die Stimmung um, wenn der Kaiser in gleichem Atemzug nicht nur eine Reichensteuer forderte, sondern die Reichen gleich verpflichten wollte, ihre Kinder zu enterben und ihr Vermögen dem Staat zu hinterlassen. Wir ahnen, worauf die Inszenierung hinauswill: dass wir fahnden sollen nach den Caligulas unserer Zeit.

Caligula can’t shoot down the moon. Helicon, wissend dass auch er sonst gefedert und geteert wird, behauptet, ihm den Mond heruntergeholt zu haben, doch was immer er Caligula da überreicht – der Mond ist es nicht. Cherea bringt beide um. Der Vorhang fällt, Applaus brandet auf, doch wir sollen ja nach den Caligulas unserer Zeit fahnden. „Nein, ich bin nicht tot“, grinst Caligula verschlagen durch den Vorhang. Er wird die Menschen weiter quälen - bis zum heutigen Tag. Man muss gar nicht weit zurückblicken: Ein täglicher Blick in die Zeitung genügt. Breaking News in den Tagen des „Caligula“-Gastspiels in Duisburg: Der saudi-arabische Regimekritiker und Journalist Jamal Khashoggi marschiert ins Konsulat in Istanbul, um seine Hochzeitspapiere abzuholen, und wird dortselbst von einem saudischen Killer-Kommando gefoltert, getötet und zerstückelt. Der Unterschied zu Camus: Caligula hätte die Tat in aller Öffentlichkeit begangen, die Saudis schicken eine Putzkolonne und versuchen sie zu vertuschen. Die Welt ist verrückt, aber sie macht Fortschritte.

So uneinheitlich die Inszenierung ist, so klar sind die Formen, die Bühnenbildner Matthias Koch geschaffen hat. Der größte Teil der Handlung spielt sich ab in einem Bühnenraum, der von zahlreichen goldenen, zeitweise auch in rotes Licht getauchten Stelen dominiert wird. Die Stelen könnten einen Marktplatz definieren, ein Stadion oder auch einen Palast. Sie haben eine kühle Eleganz und eine Klarheit, die der Inszenierung ansonsten fehlt. Aber es gibt einzelne großartige beeindruckende Szenen, vor allem wenn die Musik einsetzt. Mal sind sie kommentierend, erläuternd: wenn die Sängerin Drífa Hansen wie Christus am Kreuz hängt und „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“ singt. Mal sind sie zynisch: wenn Constanze Becker auf das furchtsame „Ich will nicht sterben“ von Annika Meiers Patrizier im kurzen Kinderkleidchen die Bühne betritt und auf der Blockflöte ein allerliebstes „Ave Maria“ spielt. Und geradezu berührend ist es, wenn Becker im roten Mantel des absolutistischen Herrschers das Lied von Marlene Dietrich singt: „Wenn ich mir was wünschen dürfte / Käm ich in Verlegenheit, / Was ich mir denn wünschen sollte, / Eine schlimme oder gute Zeit.“ Die einfachen Zeilen definieren die Zerrissenheit, die Camus seinem Kaiser mitgegeben hat. Nunes lässt im Anschluss Donner, Blitz und Hagel auf die Welt niedergehen. Es ist denn doch eine eher schlimme Zeit geworden.