Übrigens …

Drei Schwestern im Köln, Schauspiel

Einsamkeit auf der Matratze

Von weit her, ganz weit, es muss irgendwo auf der anderen Rheinseite sein oder drüben, kurz vor Moskau, erklingt Hundegebell. Nicht von fröhlichen, herumtollenden Hunden, sondern von einer Meute wütender, eingesperrter Köter. Tschechows Drei Schwestern leben auf dem Land. Sie träumen von Moskau, und sie wären – Olgas Lehrerinnen-Job hin, Maschas unglückliche Ehe her - frei, dort hinzugehen. Aber auch sie sind eingesperrt: in ihre Antriebslosigkeit, in ihre Langeweile, in ihre Unfähigkeit, Beziehungen aufzubauen. Ihr Innerstes schreit, aber sie hören es längst nicht mehr. In Pinar Karabuluts Inszenierung am Schauspiel Köln klingt ihr „Nach Moskau“ längst nicht mehr sehnsuchtsvoll: Mascha pfeift wie die Zugaufsicht, die die Abfahrt des ICE freigibt, und Irina legt die Hand an die nicht vorhandene Mütze, aber eigentlich wissen alle: Ihr Zug nach Moskau fährt nicht mehr.

Mag sein, dass Olga, Mascha und Irina sich mit den poppigen Bonbonfarben ihrer Kostüme gegen die Depression zu wappnen versuchen, die das Landleben in ihnen auslöst. Die kugelige Olga wird in ihrer bizarr aufgepumpten blauen Pluderhose und der rosaroten Schleifchen-Bluse zum watschelnden Riesen-Ei. Susanne Wolff stattet sie mit einer burschikosen Kodderschnauze aus, die von einer eventuellen ehemaligen weiblichen Attraktivität nicht mehr viel übriglässt. Auch Mascha ist bisweilen taillelos: Yvon Jansen sieht im bodenlangen roten Daunen-Overall aus, als hätte sie sich Oma Annemaries Winter-Oberbett um den schmalen Körper gewunden. Aber Mascha kann auch anders: Wenn es sein muss, macht sie in Lack: schwarz, figurbetont – und trotzdem nicht sexy. Einigermaßen weiblich kostümiert ist nur die Jüngste, bei der die Sehnsucht nach Moskau am größten ist: Katharina Schmalenbergs Irina bringt in ihrer Kostümierung maximal ein Drittel des Gewichts ihrer ältesten Bühnen-Schwester auf die Waage und könnte mit weißem Kleidchen und roter Strumpfhose ein gewisses Maß an Attraktivität aufbringen, wenn sie nicht so unglücklich aus der Wäsche gucken würde. Gucken tun alle drei übrigens aus überschminkten Betongesichtern, was sich im Verlaufe der knapp dreistündigen Inszenierung unter der Hitze der Bühnenscheinwerfer allerdings ein wenig verliert.

Irgendwann kommen die Männer einmarschiert – im Gleichschritt wie eine Turner-Riege. Die Matte fürs Bodenturnen wird ihnen bald bereitet sein… Justus Maiers Andrej Prosorow, der vierte im Bunde der Geschwister, sieht aus wie der Captain aus irgendeinem Raumpatrouille-Film, Peter Knaack gibt den Oberstleutnant Werschinin im stahlblauen, mit einer beeindruckenden Zahl an blechernen Orden dekorierten Anzug, der allenfalls noch ferne Reminiszenzen an eine Uniform weckt. Er redet viel, bewegt sich wenig und greift als einziger gelegentlich zu echten Zukunftsvisionen, an die er wohl selbst kaum glauben kann.

Natürlich haben Sie richtig kombiniert: Pinar Karabulut spielt Tschechow mit Comicfiguren. Bloß: Die Comicfiguren sind nicht lustig, sondern todunglücklich. Manchmal bekommen die Figuren sogar etwas Clowneskes; manchmal gibt es ein paar slapstickartige Einlagen. Bloß: Die Slapsticks reizen nicht zum Lachen, sondern sie unterstreichen das generelle Gefühl von Einsamkeit und Vergeblichkeit. Man könnte zumindest die ersten beiden Akte verstehen, ohne sich sonderlich auf den Text zu konzentrieren, und im vierten Akt hat Karabulut den Text eh weitgehend eliminiert. Doch irgendwie ist das alles Tschechow pur. „Das Wichtigste im Leben ist seine Form“, behauptet Maschas Mann Kulygin (Yuri Englert) einmal. Die Aufführung kommuniziert vor allem über Karabuluts faszinierende Bildsprache und über ihr herausragendes Formbewusstsein.

Bald nach Beginn bringt ein Bote ein Paket herein. Es enthält den ersten großen Theatermoment dieser Aufführung: Das kleine quaderförmige Päckchen entfaltet sich zu einer riesigen Luftmatratze, die Lotterbett und Trampolin gleichzeitig sein wird. Wie dieser Matratzen-Schöpfungsakt vor sich geht, ist eine Show. In Zeitlupe erhebt sich im Halbschatten der abgedunkelten Bühne ein großes, gefährlich anmutendes Fabeltier. Erst nach langen Minuten verwandelt sich das Tier in eine harmlose überdimensionale Schlaraffia, die zweieinhalb Akte lang die vorrangige Spielfläche ist. Die Matratze ist tatsächlich sowohl Turnfläche als auch Schlafcouch: Tschechow ist bekanntlich in den meisten seiner Dramen der Impresario der Langeweile. Im 2. Akt versucht der Vielredner Werschinin, ein ernsthaftes Gespräch mit Mascha zu führen, aber es gelingt nicht recht. Schon zuvor hatte Mascha über Langeweile und überflüssiges Wissen geklagt und von Baron Tusenbach und Werschinin Widerspruch geerntet. Der Oberstleutnant war dazu auf dem Trampolin gehüpft als wäre er von einem plötzlichen Anfall von ADHS befallen, und sein plötzlicher Aktivitätsschub war nicht minder sinnlos erschienen als Maschas Langeweile. Jetzt liegen auf der Matratze um Werschinin und Mascha herum Andrejs Frau Natascha, Baron Tusenbach und Irina - im Müßiggang, sinnfrei mit sich selbst beschäftigt, ohne Interaktion mit den anderen – einsam und gelangweilt. Auch Lehrer Kulygins Maßnahme gegen Langeweile und Bildungsüberdruss geht fehl: Er schenkt Irina zum Namenstag ein „Buch“: eine stilisierte rote Plastik-Palme.

Im zweiten Akt nimmt Karabulut das Motiv des Eingesperrtseins wieder auf. Ein riesiger transparenter Plastikreifen wird auf die Bühne gerollt. Werschinin hüpft und hält darin seine Reden. Das Rad kippt und wird zum Gefängnis für die darin eingeschlossenen Figuren. Doch Eingeschlossene sind diese Figuren eigentlich immer, eingeschlossen in ihrer Antriebslosigkeit und Inaktivität. Das Rad, in dem sie gefangen sind, ermöglicht Transparenz, einen Blick auf eine andere Welt, auf Lösungen – aber sie können von den Einsamen in ihrer antriebsarmen Emigration nicht erreicht werden. Auch die Brandkatastrophe zu Beginn des 3. Aktes bringt diese Gesellschaft nicht wirklich in Wallung - von Anteilnahme ist nichts zu spüren. Stattdessen gibt sich die Gesellschaft der Einzelgänger zunehmend dem Selbstmitleid und der Verzweiflung hin. Aus der Matratze weicht langsam die Luft.

Nach der Pause weicht auch das Schauspiel zurück zugunsten performativer Elemente aus dem Choreographischen Theater und der Bildenden Kunst. Bilder und Musik übernehmen nun endgültig das Kommando; gesprochen werden nur noch Textfragmente. Hatte man bis dahin den Eindruck, dass Karabulut Tschechows Langeweile- und Vergeblichkeits-Drama ins Heute überführen wollte, extrapoliert sie das Geschehen nun in die Zukunft - in eine Zukunft, die etwas Apokalyptisches hat. Doch diese Apokalypse kommt nicht als großes endzeitliches Armageddon mit flammenden Schwertern daher, sondern als Implosion. „There won’t be a next time“, schreibt Tusenbach mit den Fingern in die Luft. Alle anderen formieren sich zu einer Choreographie debiler Karikaturen. „Lass uns nach Moskau gehen“, bittet Irina ein letztes Mal. There won’t be a next time: Konsequent folgt Karabulut der Interpretation des Stücks als Endzeitdrama.

Mechanisch, automatengleich bewegen sich nun die Figuren. Die Kostümierung von Justus Maier als Raumpatrouille-Captain leuchtet vor dem Hintergrund des Zukunftsszenarios nun ein. Werschinin steht da und blickt mit starren Augen ins Leere – es ist der Blick eines Science-Fiction-Automaten in einem Horrorkabinett. Peter Knaack setzt an zu ein paar mechanischen Tanzschritten. Nach und nach reihen sich die übrigen Figuren ein in einen gruseligen Tanz der Maschinen. Die versprochenen Paare verfehlen einander.

Großartig gelingt auch die Choreographie, in der das Duell zwischen Solenyi (Nicola Fritzen) und Tusenbach angedeutet wird. Bald liegen alle wie tot auf dem Boden, nur Wolf-Dietrich Sprenger als Chebutykin, der dem Tod am nächsten schien, irrt über die Bühne: „Und von mir haben sie vergessen, sich zu verabschieden.“ Das ähnelt der Schlussszene aus Tschechows „Kirschgarten“, und so wirkt es fast ein wenig drangeklebt, wenn Irina noch von Chebutykin erfahren muss, dass ihr Verlobter, der Baron Tusenbach, im Duell getötet wurde. Das System ist abgestürzt: „Error 404“ leuchtet auf dem Videoschirm auf. Suche nicht erfolgreich. Die nach dem richtigen Zug nach Moskau nicht, die nach dem richtigen Partner nicht, und die nach dem richtigen Leben auch nicht. Die Frage nach der spannendsten Jung-Regisseurin in NRW könnte allerdings beantwortet sein.