Übrigens …

Die Jüdin von Toledo im Bochum, Schauspielhaus

Das Wort spielt die Hauptrolle

Die Bühne im Großen Haus ist grau und gänzlich ohne Requisite. Einzig eine riesige weiße Styropor-Wand hängt von der Decke. Sie wird im Verlauf der knapp dreistündigen von Dramaturg Koen Tachelet bearbeiteten Inszenierung nach dem 1954 erschienen Roman von Lion Feuchtwanger mehr und mehr ans Routieren kommt. Mal ist sie Palastwand, mal Straßenecke, dann Klagemauer. Gespielt wird Die Jüdin von Toledo. Es ist zum Spielzeitauftakt die erste Regiearbeit des neuen Intendanten Johan Simons.

Toledo ist eine alte Stadt auf einem Hügel über dem Flachland von Castilla-La Mancha in der Mitte Spaniens. Die Zeit wird gut 800 Jahre zurückgedreht, eine Zeit, in der die iberische Halbinsel geteilt ist. Im Süden regieren die muslimischen Mauren, im Norden in Kastilien herrscht der christliche König Alfonso VIII. Während die Juden im Süden sich dem Islam unterordnen müssen, können sie im Einflussbereich von Alfonso ihren Glauben ungestört ausüben.

Die Zerrissenheit Spaniens wird ganz am Anfang deutlich, als die schwarzen Tücher, die die weiße Mauer ummanteln, abgestreift und von den Akteuren auf der Bühne minutenlang zerfetzt werden. Dann herrscht vor allem eines vor: Das Wort. Und zwar ganz gewaltig. Es wird kaum gehandelt bei Simons. Vielmehr wird berichtet. Alfonso (anfangs zart, oft ein bisschen bockig-tumb und kindisch: Ulvi Erkin Tek) ist begeistert vom Krieg machen. Natürlich gegen die Mauren, doch die letzten Kämpfe haben sein Land viel Geld und viele Ritter gekostet.

Seine Frau Leonor (eitel, herrisch und dann wieder unterwürfig: Anna Drexler) rät dem König, den weisen und verschlagenen Juden Jehuda (glaubwürdig, intensiv und echt: Pierre Bokma) als Finanzberater an den Hof zu holen, um die königlichen Truhen wieder voller zu machen. Erstaunlich: Man vermisst als Zuschauer weder den fehlenden Schlachtenlärm noch die klirrenden Waffen oder die klingenden Münzen. Alles spielt sich im Kopf des Publikums ab und die Akteure auf der Bühne von Toledo sind dafür ständig in Bewegung.

Jehuda plädiert gebetsmühlenhaft für den Frieden, der katholische Priester Rodrigues (Michael Lippold) gibt sich tolerant und ist weder für noch richtig gegen den Krieg gegen die Ungläubigen, aber da ist auch der stets stänkernde und kriegslüsterne Don Martin, der den radikalen Glaubenskrieger böse und fordernd gibt. Er verbündet sich später mit Königin Leonor, die ihren Alfonso schließlich in den Krieg hetzt, um ihn als Ehemann wieder zu bekommen.

Denn den hat sie tatsächlich verloren. Und zwar in dem Moment, als Alfonso sich in die blutjunge Raquel (herrlich, Hanna Hilsdorf, die anfangs mädchenhaft und unschuldig, später als exzessiv Liebende die Gespielin des Königs gibt) verliebt. Ja, verlieben muss, denn Leonor ist vor allem eins: kalt und berechnend und der junge König will mit Raquel alles, nur eben keinen Krieg. Nach dem alten 1968er Motto „Make love, not war“ verbringt er die Monate im heißen Toledo zusammen mit seiner Mätresse in einem Lustschloss.

Ach ja, da ist - an der Seite von Jehuda und auch als Vertrauter von Raquel - noch der aufgeklärte, muslimische Gelehrte Musa (die dunkelhäutige Gina Haller ist wohl die modernste Figur des Stücks und spielt überzeugend die Rolle von Musa, der in seiner Weltoffenheit auch nicht für Kampf und Krieg ist.) Alle drei Religionen also in Kastilien, in Toledo - es scheint alles gut zu gehen. 

Als Raquel dann einen Jungen zur Welt bringt, ist die Freude anfangs groß. In dem Moment, als Alfonso verlangt, den Jungen christlich taufen zu lassen, kippt die Stimmung um. Die weiße Wand dreht sich zunehmend schneller, es knirscht hörbar von der Bewegung und man spürt förmlich, dass es jetzt bald erstmal vorbei sein wird mit dem Erzählen.

Nach der Pause ist klar: Die Scharfmacher und Befürworter des Kriegs gegen die Mauren setzen sich durch. Wie um langsam in Stimmung zu kommen, wird ellenlang wie wild kopuliert auf der Bühne. Männer mit Männern, mit Frauen und Frauen mit Männern und Männern liegen da zuckend und sich windend. Für den Zuschauer fast bis zur Schmerzgrenze - und doch gibt es gerade bei dieser Szene auch einige Lacher aus dem Publikum. Dann plötzlich kurze Stille, wie die Stille vor dem Sturm.

Der bricht mit Eisenstangen los, die von allen Akteuren mit Vehemenz und Wut in die weiße Mauer geschlagen werden. Die Mauer wird rissig, brüchig. Große Stücke fallen zu Boden, es staubt gewaltig. Die Zuschauer in den ersten Reihen halten sich Tücher vor den Mund, einige halten die Hände vor die Augen. Mancher hustet. Ist Styropor-Staub eigentlich gesundheitsschädlich? Dazu gibt es auch aus dem Off Geräusche wie von Panzerfahrzeugen und man denkt unweigerlich an aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten.

Die Mauren siegen, und zwar auf ganzer Front. Leichen bedecken die Bühne zwischen den weißen Mauerresten. In Toledo werden schnell - auch durch die Hetzreden von Königin Leonor und Don Martin - die „Schuldigen“ ausgemacht: Jehuda und seine Tochter Raquel. Die sollen - so wird dem Volk von Toledo eingetrichtert - die Pläne Alfonsos an die Mauren verraten haben. Wie im Mordrausch schlägt der gedungene Diego (Risto Kübar) eine halbe Ewigkeit mit Mauerstücken auf Jehuda ein. Wieder wirbelt minutenlang der weiße Staub auf und in die Zuschauerreihen. Dann wird Raquel geschändet und ebenfalls ermordet. 

Zu spät kommt Alfonso aus der Schlacht zurück. Am Grab gesteht er seiner toten Geliebten, falsch und „wie ein Kind gehandelt“ zu haben. Krieg ist eben vieles, bloß halt kein Kinderspiel.

Das Publikum in Bochum feierte die Schauspieler, die politische Inszenierung und den Intendanten mit langem, ehrlichem Applaus. Die Botschaft von Simons an die Zuschauer ist so klar wie beklemmend: Es hat wohl kaum einen Sinn, auf eine gerechtere, friedlichere und menschlichere Welt zu setzen. Oder etwa doch?