Ein tödlicher Triumph der Liebe
Troja … wird am Rande mal erwähnt. Die Antike ist wie durch einen Schleier präsent; Namen fallen, die vor allem den Altphilologen näher vertraut sein dürften. Der Krieg rumort irgendwo im Hintergrund, weit weg von uns, die wir im Parkett des Schauspielhauses Bochum sitzen und der alten Geschichte von Achilles und Penthesilea lauschen. Was wir durch das Dunkel vernehmen, bei lange geschlossenem Vorhang oder später, wenn kaum sichtbar im schwarzen Grund helle Körper fuchteln und zucken, mag der Krieg sein: ein Schnaufen von Menschen unter höchster Anstrengung, ein Schleifen von Toten oder Verletzten. Zwei haben die Schlacht überlebt: Sandra Hüller und Jens Harzer betreten die Bühne. „Neridensohn“, ruft sie, und „Gott!“ Sie schmachtet ihn an: „Bin ich im Elysium?“
„Königin“, erwidert er: „Wer bist du, wunderbares Weib?“ Wenige Minuten ist Johan Simons‘ Inszenierung von Kleists Penthesilea alt, und schon befinden wir uns mitten in einer Liebesgeschichte. Einer Liebesgeschichte, die irgendwie zeitlos ist – die im Heute spielen könnte oder in der Antike oder irgendwann dazwischen. Und die doch so, wie die virtuosen Schauspieler sie uns zeigen, weder im Heute noch in der Antike noch irgendwann dazwischen vorstellbar ist. Was der Regisseur und Bochumer Neu-Intendant uns zeigt, ist etwas Exemplarisches. Es ist eine amour fou mit Labor-Charakter.
Simons und vor allem sein für die Textfassung verantwortlicher Dramaturg Vasco Boenisch haben Heinrich von Kleists Drama radikal zusammengestrichen und ausschließlich auf die beiden Protagonisten reduziert. Alle anderen Figuren sind gestrichen - was nicht heißt, das auch auf ihre Texte vollständig verzichtet wird. Große Textteile wie zum Beispiel die Mauerschauen und Botenberichte werden einfach auf Penthesilea und Achilles verteilt. Gesprochen wird die alte Kleistsche Sprache, und zwar – von einigen humorvollen Ausfällen Jens Harzers abgesehen – mit erbitterter Konsequenz. Viele von uns schätzen Kleists kunstvolles Wortgedrechsel, und doch hat das beim Zuhören seine Tücken: „Sie ist mir nicht, die Kunst, vergönnt, die sanftere der Frauen“ – ich bitte Sie: wer quatscht denn so’ne Oper, wenn er verliebt ist? Hüller und Harzer tun das virtuos, flirten und flöten, schnauben und wüten in Kleists Versen – doch sie halten den Zuschauer und -hörer dieses durchaus heutigen Liebeskampfs trotz ihres virtuosen Spiels auf Abstand. Er folgt dem emotionalen Ausbruch von Liebe, Lust und Leid, doch er folgt ihm vor allem mit intellektuellem Interesse. Den Verstand verlieren wie Penthesilea, wenn sie Achilles im Zustand der Raserei mit Hilfe ihrer Hunde in Stücke reißt, wird der Zuschauer nicht.
Auch mit der Ausgestaltung der Figuren betont Simons den Laborcharakter der Inszenierung. Sandra Hüller verfügt zwar von Natur aus über ein glockenhelles weibliches Stimmchen, aber als Penthesilea tritt sie wie ein Mannweib auf. Kurzhaarig, die Brust mit eng geschnürtem schwarzem Tuch abgeklemmt, mit einem staunenswerten Sixpack, das jeden männlichen Himmelsstürmer auf den Schlachtfeldern des Krieges und der Liebe in Angst und Schrecken versetzen kann, wirkt Penthesilea androgyn bis geschlechtslos. Für die Königin eines Volkes, nach dessen Gesetzen die herrschenden Damen ihre Sexualpartner im Kampf erobern und nach erfolgter Schwängerung wieder in die Wüste schicken müssen und das Liebesleben ausschließlich auf den Zweck der Zeugung neuer Kriegerinnen ausgerichtet ist, erscheint eine solche Rollengestaltung nachvollziehbar. Achill, Penthesileas Gegenspieler und Geliebter, tritt im gleichen schwarzen Rock auf wie die Amazonen-Queen. Er ist der Weichere, trägt die Haare ein wenig länger, wirkt weniger verbissen und verfügt im Kontrast zu seiner rasenden Gespielin über ein wohltuendes Maß an Humor, mit dem er das Pathos der Kleistschen Vorlage bricht und gelegentlich elegante Frivolitäten aus Kleists Text herauskitzelt. In der wechselseitigen Erinnerung an die Amazonen-Schlacht klingt bei Harzer das Grauen an, bei Hüller der Genuss. So erleben wir eine Angleichung, bisweilen gar eine Umkehrung der Geschlechterklischees – eine durchaus sinnhafte Interpretation der antiken Geschichte, auch wenn die so emotionale wie in ihrer Unbedingtheit irrationale amour fou nach wie vor stärker vom Weibe ausgeht.
Dass Simons und Boenisch eine Laboruntersuchung des Stücks durchführen, bedeutet nicht, dass die amour fou nicht mit Leidenschaft gespielt würde. Hüller spielt variabel, zeigt vielfältige Gefühle, doch von Beginn an hat ihre Leidenschaft etwas Krankhaftes, Psychopathisches. Schon als sie, die gemäß den Regeln ihres Volkes allen Männern abgeschworen hat, noch kämpft gegen ihr Begehren, fuchtelt sie mit ihren Extremitäten in der Luft, wedelt zur Unterstützung ihrer Rede übertrieben expressiv mit den Armen, schlägt sich auf die Oberschenkel und gegen die Brust, rennt ekstatisch hin und her und bricht auf dem Bühnenboden zusammen. Diese Frau ist nicht nur ver-, sondern vor allem durchgeknallt. Ist das der Liebesrausch? Das Überhandnehmen des sexuellen Begehrens und der körperlichen Lust spielen Hüller und Harzer auf unterschiedliche Weise: er mit tiefem Sehnen, sie mit ekstatischem Zappeln. Diese Ekstase weist bereits voraus auf das blutige Ende der Affäre.
Doch zunächst steht der Genuss im Vordergrund. „Fluch mir, find‘ ich jemals einen Mann, den mir das Schwert nicht würdig zugeführt“, klagt Penthesilea und fasst ihre Nöte damit auf den Punkt zusammen. „Sieh mich nur an, Verlorene“, entgegnet Harzer mit dem Blick der eigentlich gestrichenen Vernunftsperson Prothoe. Er zieht sich fast nackt aus: „Steh ich nicht ohne Waffen jetzt bei dir?“ Sie hat kein Schwert, und er hat keine Waffen: Da gibt sie ihren Widerstand auf, unterwirft sich und genießt, was sie wohl nie genießen wollte: einen Triumph der Liebe. Wie ein Schoßhund oder ein Kätzchen krabbelt Penthesilea auf Achilles zu und gurrt, sie juchzt vor Vergnügen, als Achill ihre Füße und Fersen liebkost. (Ach Kleist, du bist so modern und doch so weltfremd: Statt sich mit spitzen Schreien und Dirty Talk aufzugeilen, doziert Achill dann über Troja.)
Doch der Triumph der Liebe wird zum Ausgangspunkt der Katastrophe. Vom großen Liebesakt, der im Kannibalismus endet, berichten Penthesilea und Achilles abwechselnd in einer rückblickenden Mauerschau - in inniger Umarmung. Vom blutigen Reißen der Hunde und dem Biss in die Brust des Achill hören wir mit sanftem, liebevollem Timbre, nicht wie bei Constanze Becker in Michael Thalheimers Inszenierung am Schauspiel Frankfurtmit der Ekstase einer Furie. Wenn man die Augen schließt in Johan Simons‘ ganz auf die Kraft der Sprache setzender Inszenierung, sieht man die Bilder, von denen erzählt wird, aber das Grauen des Mordes sieht man nicht. Man erlebt die Liebe, die zu diesem Mord geführt hat. Das ist großes Theater, auch wenn es Sandra Hüller nicht gelingt, „halb Furie, halb Grazie“ zu verkörpern. Hüller spielte am Abend der Bochumer Premiere gegen ein Handicap an: Obwohl sie mit großer Präzision sprach, war sie bereits in der normalerweise optimalen Reihe 8 des Parketts kaum zu verstehen. Es war, als sei die Akustik des Hauses nicht kompatibel mit Hüllers heller Stimme. Im Salzburger Landestheater, an dem Simons‘ Inszenierung bei den Festspielen im Sommer ihre Premiere feierte, soll es dieses Problem nicht gegeben haben. Es ist zu wünschen, dass die Bochumer das Problem in den Griff bekommen: Dann haben sie eine große Aufführung im Repertoire, die klassisches Schauspiel mit einer durchaus experimentell gedachten Inszenierung aufs Glücklichste vereint.