Seelenlärm und Begehren
Die Bühne ist zwar hell beleuchtet, dafür aber ziemlich öd und leer. Nur hinten ein Prospekt, der mit seiner angenagelten Elchtrophäe Jagdgepflogenheiten suggeriert. Diese Wand hat offenbar schon bessere Zeiten gesehen, mit ihren bräunlichen Flecken. Sodass der Raum gehörig ungemütlich wirkt, in dem, weit vorn und ganz allein, Marlena Keil steht. Da wird auch sonst niemand mehr kommen, die nächsten 70 Minuten lang. Es ist ihr Solo. Behutsam beginnt sie, fast einsilbig: Die Erzählung der Magd Zerline wird bei ihr indes schon bald zu einem lebendigen, wenn auch vergangenen Sittengemälde, zu einer nostalgisch gefärbten, bittersüßen Erinnerung. Marlena Keil als Zerline, das spiegelt Koketterie und Begehren, gezügeltes Verlangen und tieftraurige, stille Liebe. Manchmal strömen der Schauspielerin die Worte rasend aus dem Mund, dann wieder formuliert sie beinahe stockend – wie das eben so ist, wenn die alten Geschichten und Bilder wieder hochkommen.
Das Stück ist Hermann Brochs Roman „Die Schuldlosen“ entnommen, der sich aus insgesamt elf Erzählungen speist. Der österreichische Autor, 1886 in Wien geboren, gewissermaßen ein k.u.k.-Kind, erlebte den 1. Weltkrieg und den Untergang des alten Kaiserreiches, später dann, 1938, den „Anschluss“, der ihn ins amerikanische Exil trieb. Schon Anfang der 1930er Jahre schrieb er in „Die Schlafwandler“ über den Zerfall der alten Werte, über die ökonomische Dominanz in einer irrationalen Welt. „Die Schuldlosen“ wiederum fokussiert sich auf die Jahre 1913, 1923 und 1933, auf die weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen während dieser Zeitspanne. Dem niederen Adel, später dem Kleinbürgertum attestiert er dabei eine schuldhafte Schuldlosigkeit, die mit zum Nationalsozialismus beitrug.
Im Mittelpunkt aller Erzählungen steht dabei die Magd Zerline, eine Bedienstete nur und doch steter Fixstern des Romans. Auch sie ist innerhalb des häuslichen Gefüges nicht frei von Schuld, wie ihre Erzählung belegt. Sie schnüffelte einst im intimen Briefwechsel zwischen der Baronin, ihrer Herrin, und deren Geliebten, dem windigen Herrn von Luna herum. Sie spielte dem Baron diese pikanten Schriftstücke zu, der alsbald an gebrochenem Herzen starb. Und die Magd weinte bittere Tränen.
Am Ende weint auch Marlena Keil. Still, berührend, auf einem Koffer sitzend, dem einzigen Requisit, das ihr zur Verfügung steht. Ansonsten zählen, hier im Dortmunder Schauspielstudio, nur das Wort, die Mimik, die Bewegung. Anfangs schält sie sich mühsam heraus aus diesem alten Gepäckstück. Zerline trägt Hut, Mantel und Handschuhe, ein bisschen vornehm wirkend, zugleich ein wenig out of fashion. Später, in eng geschnittenem Rock und Pullover, wird sie sich waghalsig auf diesen Koffer bugsieren, der als Symbol steht für den Kutschbock, gezogen von zwei Rappen, mit dem der Weiberheld von Luna Zerline spazieren fährt. Die zwar vor Verlangen brennt, sich aber zunächst nur einen keuschen Kuss abnötigen lässt. Erst der zweite Ausflug, ins ominöse Jagdhaus des Herrn, führt zur Liebesnacht. Er sei der beste Liebhaber gewesen, meint die Magd rückblickend. Und doch sei es schlecht gewesen, hätte doch sie des Mannes Lust befriedigen müssen.
Marlena Keil erzählt abgewogen, pointiert. Bisweilen ist sie aufgewühlt, doch stets liegt ihr jede Hysterie fern. Selbst ihr ärgerlichster Augenblick, wenn die Stimme auffährt, sie den „Seelenlärm“ in den Briefen zwischen der Baronin und von Juno geißelt, also das romantische Geklingel, hat nichts von Überzeichnung. Eher schimmert leise Verzweiflung durch. Die Inszenierung von Matthias Rippert, der auch die puristische Ausstattung verantwortet (zusammen mit der Schauspielerin), geht uns nahe. Wie sie uns bisweilen sogar erheitert. Kurzum: Es ist ein Solo von spannungsvoller Schönheit.