Übrigens …

Der zerbrochne Krug im Schauspielhaus Düsseldorf

Kleists Amtsrichter Walter von der #MeToo-Debatte eingeholt

Beim Einlass steht eine männliche Figur starr in der Mitte der Bühne, einem eiskalten Kasten aus großen weiß-grau gemaserten Marmorplatten ohne Fenster und Türen, nur irgendwo hochoben ein Sicherungskasten, den man später brauchen wird. Davor eine hohe Standleiter, ein wichtiges Requisit, nicht nur um das immer wieder flackernde Licht einzuschalten. Der Bühnenboden - etwa um einen Meter angehoben - , im Dunklen darunter eine zweite Ebene, aus der das gemeine Volk auftauchen wird: eine sinnige Metapher für die Mehrschichtigkeit des Kleist’schen Werks (Bühne Valentin Baumeister).

Doch, wer ist diese Figur in bodenlanger Richterrobe mit geschundenem Gesicht und wallender Perücke? Dorfrichter Adam? Das passt nicht zusammen: Die gepuderte Perücke trug er vor dem Fenstersturz, die Wunden zweifellos erst danach.

Ganz leise ertönt verträumte Musik durchsetzt von Vogelgezwitscher und dann, urplötzlich ist Eve da: in hautfarbenen Dessous windet sie sich anzüglich zwischen den Beinen des Mannes hervor mit einem leuchtendrotem Apfel in der Hand: ADAM und EVA nach dem Sündenfall? Eine obszöne Männerfantasie des Richters Adam? Eine erschreckende Szene, die die Regisseurin Laura Linnenbaum der eigentlichen Handlung vorangestellt.

Dann erwacht Richter Adam (Andreas Grothgar) aus seinem Traum, jetzt in flatterig-weißer Unterhose, mit hässlichem, verschmutztem Klumpfuß, den Körper voller Wunden, die er – zumindest auf dem Kopf - später mit weißem Puder notdürftig abzudecken versucht, da die Amtswürde-präsentierende Perücke ja bei seiner Untat verlorenging und erst gegen Ende ramponiert als wichtiges Indiz wieder auftaucht.

Der Schreiber Licht (Rainer Philippi) erscheint in gepflegtem Pepita-Outfit, ersteigt die Leiter, vorerst, um sich um den Licht-Kasten zu kümmern, gibt den geschmeidigen Subalternen und ist gleichwohl der Erste, dem ein Licht aufgeht und der schon bald seine Chance auf die Dorfrichter-Nachfolge wittert. Unvermittelt öffnet sich eine verborgene Tür in der Marmorwand und herein tritt der gefürchtete Gerichtsrat Walter (bieder, beschränkt: Florian Lange).

Der Gerichtstag beginnt. Kläger und Beklagte kriechen aus dem Untergrund hervor: Eve, ein braves Mädchen in Gummistiefeln und kurzer Latzhose, die Haare zum Zopf geflochten (grandios Cennet Rüya Voss) bleibt zunächst schweigend in gespannter Aufmerksamkeit am Bühnenrand stehen. Die Klägerin Frau Marthe Ruff (forsch, selbstbewusst, Zigarette rauchend: Michaela Steiger) bringt das Corpus Delicti, den zerbrochnen Krug - versehrt wie auch noch unversehrt – nur auf dem I-Phone vors Gericht. Und schließlich der von Marthe fälschlich beschuldigte Verlobte, oder besser Ex-Verlobte, Ruprecht (Stefan Gorski), der bereits vor jeder Beweisaufnahme seine Verlobung mit Eve aufkündigte, eine Vorverurteilung, die das burlesk- groteske Lust-Verwirrspiel anfeuert.

Über allen platziert die Regisseurin den ramponierten über und über weiß gepuderten Dorfrichter Adam als diabolische Karikatur seiner selbst mehr recht als schlecht oben auf die Leiter, die jetzt in der Bühnenmitte steht. Da windet er sich nun, der Täter als Richter über sich selbst – eine geistreiche Verkehrung der Ödipus- Geschichte – und weiß mit Wortwitz, List, provozierten Missverständnissen und bösen Irreführungen den Fall eher zu ver- all zu entwirren. Laura Linnenbaum bleibt da ganz nah an der Kleist’schen Textvorlage. Doch wenn das Leiter-Bild auch etwas Bestechendes hat und Grothgar mit seiner Performance herzliche Lacher provoziert, so haftet dem coolen Marmorraum und dem Arrangement doch etwas allzu Statisches an. Es hat so gar nichts von der „Hölle“, als die der Dorfrichter seine Registratur bezeichnet. Auch der Kühlschrank im Hintergrund, aus dem der Schreiber Licht sowohl den Wirrwarr an Akten hervorholt als auch Wein, Käse und Wurst zur Bestechung des Gerichtsrat Walter, lässt weder höllische noch dörflich-burleske Amtsstuben-Assoziationen aufkommen. (Als krasses Gegenstück dazu mag man sich an die Saustall-Atmosphäre bei der Inszenierung von Andrea Breth und der Bühnenbildnerin Annette Murschetz bei der Ruhrtriennale 2009 erinnern.) Doch aller Coolness zum Trotz ist es letztendlich die Aussage der einzigen Augenzeugin Frau Brigitte (herrlich naiv: Markus Danzeisen im Faltenrock), die den Täter sah und einwandfrei zu identifizieren glaubt: es war der Teufel selbst.

Was Kleist da in abstruse Folklore kleidet, ist in Wahrheit eine kalte Analyse korrumpierter Machtverhältnisse, und da stimmt dann der emotionslose Background der Düsseldorfer Inszenierung auch wieder. Und wenn selbst der reichlich bornierte Gerichtsrat Walter (der so gar nicht seines Amtes walte(r)t) begreift, was da los ist im niederländischen Dorf Huisum und den überführten Bösewicht mit seinem Teufelsfuß davonjagt, scheint für einen Moment die Welt wieder in Ordnung.

Doch dann folgt ein radikaler Stimmungsbruch. Linnenbaum räumt die Bühne für den ungekürzten Monolog der Eve. Aus dem Lust-Spiel wird ein Vergewaltigungsprozess und die Eve der grandiosen Cennet Rüya Voß schafft diesen Sprung. Ergreifend schildert sie das perfide Geschehen, die Ränke und Listen des Täters, ihren Vertrauensverlust. Doch getreu dem Kleist’schen Text spart sie zwei Minuten im Geschehen aus: „Er sieht mich an, zwei abgemessene Minuten starr mich an“. Eve ist erschüttert. Macht eine Pause. Was mag geschehen sein in diesen zwei Minuten?

Der Gerichtsrat – schon leicht betrunken – scheint gerührt, erbittet sich vom „Verlobten“ die Erlaubnis, Eve zu küssen. Der verfügt eigenmächtig über sie, willigt ein und stoppt die Zeit: zwei Minuten gibt er dem angeblichen Aufklärer. Der stürzt sich auf Eve. Zwei Minuten reichen ihm für eine Vergewaltigung: eine schockierend realistische Szene spielt sich auf der Bühne ab. Brutal.

Und Linnenbaum geht noch weiter: während Walter bei Kleist den Bösewicht verjagt (um das korrupte System vor einem Skandal zu schützen), kommt er in Düsseldorf im schicken dunklen Anzug zurück, findet Weiterverwendung, während der raffinierte Licht oben auf der Leiter im Richter-Talar Platz nimmt.

Es braucht keine Textergänzung für diese interpretatorischen Zusätze. Sie sind stimmig und ergreifend erspielt. Kleist liefert mit seinem zweihundertsieben Jahre alten Stück einen dramatischen Beitrag zur #MeeToo-Debatte. Auch bei ihm steht am Ende der allzu oft erhobene Vorwurf einer Mitschuld des Opfers: „Wenn sie sich gleich …“, ja dann hätte sie dem Gericht und sich selber Schande erspart. (Da war doch der leuchtend rote Apfel im Prolog!)

Die Männer umarmen sich. Niemand lernt etwas dazu.