Amazonas im Köln, Theater im Bauturm

Europas Sündenfall in Südamerika

Sie bieten ein Bild des Jammers. Wie von einer geistigen Krankheit geschlagen, wälzen sie sich auf dem Boden, pressen gurgelnde unverständliche Laute hervor, lachen grell und unnatürlich. Dazu passt ihr Outfit, das an Kinder im Strampelanzug erinnert. Erst nach einer halben Stunde werden erste verständliche Worte hörbar.
Man ahnt Schreckliches. Schließlich sind wir in Alfred Döblins (1878-1957) Roman-Trilogie Amazonas gelandet. In einer Welt der Indios. Sind sie etwa gemeint, wenn sich eine Frau und zwei Männer wir halbwilde Idioten gerieren? Obwohl gerade Döblins 1000–Seiten–Roman genau das Gegenteil anstrebt? Nämlich beide Welten, die der Indios wie die der europäisch-spanischen Eroberer, äußerst differenziert sichtbar zu machen? Denn unschuldig sind beide Seiten nicht, mögen die Indios letztlich auch die Unterlegenen und Besiegten sein.
Es dauert lange, ehe sich der Verdacht verflüchtigt, im Kölner „Bauturm“-Theater in eine bittere Klischeefalle zu stolpern. In die, dass alle Indios wild und deppert, alle Europäer Mörder sind. Döblins Roman-Trilogie, die eine Spanne von 500 Jahren umfasst, erweist sich vielmehr als ein vielfältige Beobachtung einer in die Brüche gehenden Welt.
Döblins Trilogie, von Regisseur Tom Müller und seinem Ensemble für diese Inszenierung erarbeitet, ist in Köln zu einem zweieinhalbstündigen Theaterabend eingeschmolzen, dessen Einstieg in die heterogene Geschichte freilich ebenso verwirrt wie die gesamte Inszenierung letztlich recht ratlos zurücklässt. Schließlich ist und bleiben ein Übermaß an körperlichen Zuckungen und Verzückungen, Bodenturn-Übungen und exaltiertes Geschrei und Gehabe die Regel, die immer wieder Döblins Text-Fragmente überlagern und in übersteigerte Theatralik treibt.
Es beginnt, ehe wir in diese Welt eintauchen, in der Pariser Nationalbibliothek. Hier nämlich hat Döblin, der sich eigentlich Studien über Kierkegaard hatte widmen wollen, die Faszination südamerikanischer Atlanten dazu verführt, sich auch literarisch dieser Welt zu widmen. So entstanden, zwischen 1935 und 1937 die drei Bände Das Land vom Tod, Der blaue Tiger und Der neue Urwald. Mit dem neuen Urwald ist übrigens Europa gemeint - ein Kontinent am Rande des 2. Weltkrieges.
Da sitzt er also, macht sich Notizen – und verlässt nur wenig später wieder die stumme Szene. Dann hebt sich der Vorhang und auf der Spielfläche wartet eine Mixtur aus Indio-Zelt und christlicher Kapelle. Ein Kreuz ragt schräg aus dem aus lichtdurchlässigen Planen gestalteten Raum. Kniehohe grüne Gräser davor imaginieren eine Urwald-Szenerie.
Das Verwirrspiel kann beginnen. Denn wann das junge Trio (Darja Mahotkin, 25, Paulo de Queiroz, 29, und Benjamin Kühni, 25) für die indigenen Völker steht, wann für die Usurpatoren aus dem fernen Europa, ist kaum zu enträtseln. Erst mit zunehmender Dauer wird deutlich: Das ist Prinzip. Damit werden  alle Klischee-Vorstellungen vom guten und naiven Wilden und den bösen Eroberern unterlaufen. Denn selbst unter ihnen ergeben sich radikale Unterschiede: Nicht alle „Weißen“ sind geil nach Gold, werden zu Mördern und Eroberern. Es gibt auch die Welt der vermeintlich miesen Kirchenvertreter, die sich den Mördern und Menschenverächtern in den Weg stellen. Selbst die einst so rigorosen Jesuiten werden „zahm“. Gleichwohl wird auch durch ihre Arbeit letztlich eine ganze Kultur aus gelöscht.
Die Zelt-Kapelle ist immer wieder Zufluchtsort des Trios, der Raserei und der Zärtlichkeiten. Später mutieren die Drei zu Mönchen, beschwören ihre Liebe zu Jesus, singen „für den Frieden einer neuen Generation“, tanzen verzückt ins Publikum. Eine Kreuzigungsszene wird ironisch-sarkastisch nachgestellt. Ob das nun Selbstironie ist oder Verehrung ausdrückt, bleibt in der Schwebe.
Am Ende beherrscht Farbe die Szene. Wir sind, nun weit weg von Amazonien, in einem monarchistischen Europa gelandet. Eine recht degenerierte fürstliche Gestalt ist in einen roten Herrscher-Mantel gehüllt, an seiner Seite eine Herrin im Silberkleid. Sie sind Vertreter eines Kontinents, der „sich selbst zerstört“. Wie es einst dem „Neuen Indien“, also Brasilien erging. Döblin als Visionär – im Jahr 1937.
Wenn dann, am Ende der eigentlichen Uraufführung, der 29-jährige Brasilianer Paulo de Queiroz, einer der zwei männlichen Akteure des Abends, den Bogen ins heutige Brasilien schlägt, die just erfolgte Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro zum Präsidenten verbittert beklagt, gerät der Abend in eine Aktualität, die, bei aller Sympathie für sein Engagement, weder notwendig ist noch Sinn macht. Zumal dieser homophobe Ex-Militär und verbale Totschläger demokratisch gewählt wurde. Im „Volk“ ruht eben weder das Heil noch die Wahrheit. Wankelmut ist seine Devise.
Lang anhaltender Applaus belohnte das Team.