Wenn die Augen der Liebe zu Augen der Verachtung werden
Zwei Schauspieler, ein Musiker. Drei Tische mit Mikrofonen und einem Stapel DIN A4 Blätter. Die Schauspieler lesen ihren Text davon ab, denn der ist kompliziert und außerdem eine Art von Partitur: Exakte Einsätze sind ebenso gefragt wie gutes Improvisationsvermögen. Auf den Tischen vor den Schauspielern liegen ein paar Äpfel. Sowohl Tomasso Tessitori als auch Chris Nonnast spielen die Margarethe, und sie beißen herzhaft hinein in die Äpfel. Grete Eva Schneewittchen: Gretchen, die unschuldige Kindfrau, die sich vom bösen Heinrich schwängern ließ und prompt von der Welt geächtet wurde. Eva, die mit ihrem Adam aus dem Paradies befördert wurde, weil der Apfel, in den sie biss, mit der Erkenntnis das Unglück und die Fleischeslust über die Menschen brachte. Schneewittchen, das nach dem Biss in einen vergifteten Apfel starb, und nach wundersamer Auferstehung einen Königssohn heiraten durfte.
Dirk Raulfs finsterem, assoziativen Stück, das er im Auftrag des Freien Werkstatt Theaters Köln entwickelte und als Musiker und Schauspieler begleitet, liegt eine wahre Geschichte aus dem Ruhrgebiet zugrunde. Aber Königssöhne gibt es in dieser Geschichte nicht. Margret S. hatte zeit ihres Lebens rotglühende Eisenpantoffeln zu tragen – wie Schneewittchens Stiefmutter nach ihrer Festnahme am Hofe des Königs. Am Ende biss Margret S. freiwillig in den vergifteten Apfel, den sie zuvor mit dem Pflanzenschutzmittel E 605 präpariert hatte.
Ein einziges Mal weist Raulfs Text darauf hin, dass die im Jahre 1943 geborene Margret / Margarethe einmal ein fröhliches, verträumtes Kind gewesen sein muss. Sie wächst auf in einer streng katholischen Familie, in der nichts als strenge deutsche Tugenden gelten: Sauberkeit, Pünktlichkeit, Fleiß, ein „Mach dich nützlich!“ und eine dumpfe, leb- und lieblose Religiosität. Margarethe aber ist aus der Art geschlagen, eine Leseratte. „Sie schaukelt mit dem Wind und träumt.“ Und stürzt dann hart ab: Im Alter von sechzehn Jahren wird sie vergewaltigt. Der Vater ist da bereits seit neun Jahren tot, gefallen an der Ostfront, wo er mutmaßlich an Kriegsverbrechen beteiligt war. Nach der Vergewaltigung leidet Margret an Depressionen und wird in der Folge medikamentenabhängig. Einmal wird sie sich verlieben: in einen verheirateten Gärtnermeister, der seine Pflanzen mit E 605 düngt. Im Jahre 1963, 28 Jahre nach ihrer Geburt und 12 Jahre nach ihrer Vergewaltigung, nimmt Margret S. sich das Leben.
Soweit die Fakten – sie scheinen der glühenden Pantoffeln genug. Doch Dirk Raulf beleuchtet die Folterschmerzen, die diese Pantoffeln auslösen: die Erbarmungslosigkeit, mit der Familie und Schule dem traumatisierten Mädchen begegnen, die Schuldgefühle, die Margarethe nach der Vergewaltigung befallen und die ihre Familie durch ihr verbales und nonverbales Verhalten verstärkt. Margarethe spricht in Raulfs Stück einmal von der „Folter des Schweigens und des Verdrängens“. Margret / Margarethe empfindet den Missbrauch als Stigma. Die Familie entzieht dem Missbrauchsopfer ihre Liebe und ihr Vertrauen. 50 Jahre lang wird ihre „Schande“ verschwiegen – die Schande der Vergewaltigung, die Schande des Traumas, die Schande des Selbstmords, dessen Eingeständnis eine kirchliche Beisetzung verhindert hätte. 50 Jahre nach Margrets Tod beginnt eine ihrer Schwestern zu reden. Es ist das Zeitalter von Facebook und Twitter, das Zeitalter der Aufgeregtheiten, des Zynismus und der Gehässigkeiten im Netz: „Heute wäre ich eine Online-Prominenz“, klagt Chris Nonnast, eine der beiden Bühnen-Margarethes, sarkastisch: „Selfie mit Vergewaltiger“. Sie hätte ihre 15 Minuten Ruhm, die Andy Warhol jedem Menschen prophezeite. Was ist eigentlich inhumaner, fragt sich der Zuschauer unwillkürlich: eine Missachtung des Opfers und seiner seelischen Schmerzen oder Opfer und Schmerzen dem Spott und dem Hass der Öffentlichkeit auszusetzen? Margarethe findet einmal eine Antwort dafür: „Alles ist besser als nicht mehr beachtet zu werden.“ Doch ist das eine brüchige These: In den Suizid treiben kann beides. Margarethe jedenfalls hat weder Empathie noch Therapie erfahren. Raulfs Text wird gleichermaßen zu einer Attacke auf das Schweigen und zu einer Anklage gegen die Distanzlosigkeit und mangelnde Intimsphäre im Internet.
Dirk Raulf hat diese seelische Gemengelage in einen assoziativen Text voller Wut und Trauer verpackt, in dem die Motive der drei Apfel-Geschichten immer wieder kunstvoll miteinander vermischt werden. Von der „verfluchten Hexe“, die den „armen Mann“ durch ihre Schönheit verführt hat, ist da die Rede – und in gleichem Atemzug von Selbstmord als Sünde. „Mir graut vor dir“ ruft Margarethe aus: Ja, auch so kann man den „Faust“ lesen: In aller Unschuld hat das „schöne Fräulein“ schließlich dem Gelehrten den Kopf verdreht. „Mein goldenes Haar“ besingt Margarethe – auch Paul Celans Margarete ist in der „Todesfuge“ eine schöne, verführerische Frau, die mit einer Erbsünde behaftet scheint. Märchen- und Bibel-Motive sowie Anklänge an Dantes „Göttliche Komödie“ ergänzen das vielfältige literarische Assoziationsmaterial von Raulfs anspruchsvollem, bisweilen schmerzhaftem Text.
Das Stück bringt eine tiefe Finsternis in den gut beleuchteten Keller des Freien Werkstatt Theaters. Die grenzenlose Wut und Trauer der Margarethe wird nicht ein einziges Mal durch Humor oder Ironie gelockert. Die Schauspieler sprechen den Text mal gemeinsam (leicht zeitversetzt), mal abwechselnd. Auch der Musiker und Autor Raulf beteiligt sich gelegentlich als Sprecher; ansonsten begleitet er die Aufführung musikalisch mit einem Xylophon und diversen Blasinstrumenten, eingespielten Volksliedern und Märschen sowie elektronischen Sounds und Dissonanzen. Der Vortrag der Schauspieler hat in weiten Teilen ebenfalls eine musikalische Struktur: Manchmal werden Schlüsselwörter eines von Chris Nonnast gesprochenen Texts durch Tomasso Tessitori wiederholt; manchmal beschwört die mantraartige Wiederholung weniger Worte den Horror des Lebens in der bigotten Spießbürger-Familie: „Abort – Doppelstockbett – Esstisch.“ Zwischen diesen Koordinaten, bei „Selchfleisch und Gurke“, spielt sich das Leben in dieser Familie ab.
Als Partitur bringen die Schauspieler auch die Zweiteilung des Lebens der Margarethe zum Klingen: „vorher – nachher, Mädchen – Frau, unschuldig – schuldig“. Wie der Apfel, den Schneewittchens Stiefmutter präparierte, teilt sich Margarethes Leben in eine gesunde und eine giftige Hälfte. Der Wendepunkt ist die Vergewaltigung und die Stigmatisierung des jungen Mädchens in Schule und Familie: „Die Augen der Liebe werden zu Augen der Verachtung“, und die „Heimsuchung“ wird zu einer vergeblichen „Heim-Suchung“.
Passend zum assoziativen Sound lässt Regisseur Martin Schulze zu einem süßlichen Volkslied einmal die Motoren eines Hubschraubers dröhnen. Dann geht das Lied in das Geräusch einer Schleifmaschine über. Tomasso Tessitori hatte sich schon bei den harmonischen Tönen des Liedes die Ohren zugehalten. Harmonie ist Lüge in dieser bigotten Welt, so wie die behauptete, in Wahrheit aber totgeschwiegene Biografie des gefallenen Vaters. Sie alle sind „die Wölfe … die Meute das Pack“, und Vater war Teil der Meute. Teil einer anderen Meute; er hat anderswo gewildert, wütet Margarethe: „Wo warst du, als die Strumpfhosen zerrissen wurden?“ Vater war im Krieg, und dass auch dort vergewaltigt wurde, lässt Raulf zwischen den Zeilen durchscheinen. Jetzt wüten der Krieg, die Schuld, die Denunziation in der Tochter. Sie geht in den Tod: „Niemand hat mich erkannt im Leben. Und auch Gott wollte nur meinen Gehorsam.“