Tartuffe im Dortmund, Schauspielhaus

Ungeschliffene Simpel

Molières im Jahre 1664 uraufgeführte Komödie Tartuffe hat inzwischen mächtig Staub angesetzt. Wie man den Stoff dennoch zeitgemäß, unterhaltsam und halbwegs werktreu auf die Bühne bringen kann, hat Robert Gerloffs Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus vor wenigen Monaten bewiesen: Glänzend karikiert das dortige Ensemble in poppigem Ambiente und surrealen Gummikostümen den allgemeinen Triebstau, bringt Heuchelei, Bigotterie und Geilheit zum Klingen und überlässt dem Zuschauer die weitere politische Interpretation. Im Düsseldorfer Programmheft ist von dem gegenwärtigen US-amerikanischen Präsidenten die Rede, der eine Comedy-Figur darstelle, wie sie sich der unter der Fuchtel des Sonnenkönigs stehende Molière nicht auf die Bühne zu bringen getraut hätte. Die einzige Schwäche der Düsseldorfer Inszenierung ist es, dass ihr der Transfer vom witzigen Unterhaltungs-Projekt zum prekären Politikbetrieb à la Trump nicht gelingt. Doch dass unserer heutigen Gesellschaft irgendwie der Spiegel vorgehalten wird, spürt das Publikum in Düsseldorf schon.

Ein wenig überraschend hatte Molières Tartuffe nun auch in Dortmund Premiere. „Aus aktuellem Anlass“, so schreibt das Schauspiel Dortmund kryptisch, habe man das Stück anstelle der ursprünglich geplanten Sieben Todsünden ins Programm genommen. Fake News, Gut und Böse, Heuchelei und Leichtgläubigkeit sowie ein gehöriges Maß an Bigotterie spielen nicht nur bei Trump und seiner Entourage, sondern auch im wiedererstarkenden Rechtspopulismus in Europa eine Rolle und sind wesentliche Themen von Molières Komödie. Wenn das Schauspiel Dortmund darauf hinweist, Orgon wolle „unbedingt glauben: … an Tartuffe – den Mann, der ihm Ordnung, Sicherheit und den Frieden auf Erden verspricht“, ahnt man, was die Spielplandisposition im Sinn hatte, als sie die Komödie kurzfristig auf den Spielplan setzte. Gordon Kämmerers Inszenierung, die mehrfach auch auf Peter Lichts aktuelle Überschreibung des Dramas zurückgreift, zielt in Sprache und Schauspiel auf eine radikale Aktualisierung. Dabei bleibt allerdings nicht nur die Kunst auf der Strecke, sondern auch jegliche Präzision – dummerweise auch im Hinblick auf eine klare politische Aussage. Sowohl die Regie als auch die meisten der sonst so brillanten Dortmunder Schauspieler zeigen sich überfordert.

Ein roter Barockvorhang zitiert zunächst noch die Entstehungszeit des Stückes. Wummernde Bässe gehen tief in die Bauchhöhle; dazu tanzen die Figuren in weißer Einheitskleidung, die glatt für eine Art Anstaltskleidung durchgehen könnte. Oma Pernelle hält eine Rede an die gelangweilte Familie – über den „wunderbaren Heilsbringer“ Tartuffe und über den Glauben. Das muss nicht der Glaube an Gott sein: Als Atheist „glaubt (man) vielleicht an Technologie, Bionahrung oder einen politischen Führer, Kapitalismus, ferne Galaxien, Revolution oder an die Kernfamilie.“ Das klingt als ginge Kämmerer zielstrebig die möglicherweise beabsichtigte Polit-Analyse an. Die alte Frau Pernelle wird von Uwe Schmieder gespielt, was optisch ganz witzig, schauspielerisch aber eher zum Gähnen ist. Schmieder hält eine mal schwülstige, mal schablonenhafte Politikerrede mit philosophischen Anklängen und Relativierungen, die mit einem banalen Familien-Bashing und einem Plädoyer für Tartuffe und den verblendeten Orgon endet. Die widerwillig lauschende Familie reagiert comichaft und prollig und setzt leider damit schon den Ton des Abends: „Dem Orgi? Häh?“

Häh? Häh wie hässlich. Und ungeil. Kämmerer hat den Text auf weniger als neunzig Minuten gekürzt, aber schon die erste halbe Stunde steckt voller Redundanzen. Wenn sich die Familie über den „ungeilen“ Tartuffe auslässt, sollte sie sich mal im Spiegel begucken: Marianne, Damis, Elmire und Cléante kreischen und ergehen sich in Banalitäten und nur selten zündenden Witzchen, und die Aufführung entwickelt sich maximal ungeil. Immerhin gelingt es zumindest Marlene Keil in der ersten Hälfte des Abends, dem Dienstmädchen Dorine Profil zu verleihen: Mit klaren, einfachen Statements und einem geerdeten Pragmatismus wirkt sie in ihren weißen Klamotten wie die handfeste Bäckersfrau von nebenan. Aus dem mit Ausnahme des Gerichtsdieners Loyal nicht nur einheitlich gekleideten, sondern auch einheitlich krakeelenden Ensemble ragt vor allem Uwe Rohbeck als Orgon heraus. Voller Ironie in Mimik, Gestik und Artikulation scheint er auf Distanz nicht nur zu seiner Familie, sondern manchmal auch zur Inszenierung zu gehen; ein alters-irres Nachahmen der Turteltäubchen und andere clowneske Kunststücke amüsieren, und selbst wenn er sich gelegentlich von dem allgemeinen hysterischen Gekreisch anstecken lässt, führt er seine Figur regelmäßig zu einer witzigen Karikatur zurück, die in ihrer Verblendung sogar ansatzweise tragisch wirkt. Orgon scheint es zu genießen, die ungeschliffenen Simpel seiner Familie an der Nase herumzuführen.

Björn Gabriel hat die Figur des Tartuffe bereits vor zehn Jahren am Theater Oberhausen unter dem vormaligen Berliner Volksbühnen-Berserker Herbert Fritsch verkörpert. Inmitten der „Hochleistungshysterie“ (NRZ) der zwischen Klamauk und Witz, Skurrilität und Albernheit changierenden Aufführung hatte er als vampirartige, androgyne Gestalt aus einem Fantasy- oder Gruselfilm geglänzt: leiser als die anderen, kapriziös, geisterhaft und mit hinterhältigem Charme. Gar so überzeugend gelingt ihm die Rollengestaltung diesmal nicht, doch könnte er erneut mit einer individuell gestalteten Figur aus dem Ensemble hervorstechen, wenn seiner großartigen Typenzeichnung aufgrund der gewollt oberflächlichen, unrhythmischen und banalisierenden Textfassung nicht jede Wirkung genommen würde. Nach gut einem Drittel der Spielzeit entert er die Bühne, und die Inszenierung hat einen einzigen großen Moment: Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick auf das großartige, vom Regisseur selbst geschaffene Bühnenbild frei. Zwei kitschige Putten – Engelsfiguren, Verkörperungen des Liebesgottes Amor - werden von jungen Männern beschmust; ein Wohnwagen ist Rückzugsort und Liebesnest für Tartuffe, und die Nebelmaschine taucht alles in einen warmen, aber giftigen gelben Glanz. Permanent rotiert die Drehbühne; die Szenerie wirkt wie ein Karussell auf einem Jahrmarkt. Dazu schwebt endlich Gabriels Tartuffe ein: ein Narzisst in einem Umhang mit roter Schärpe, sündig rot geschminkten Mädchen-Lippen und eng anliegendem, das Geschlecht betonendem Unterkleid.

Im Vordergrund von Kämmerers Interpretation steht nämlich nicht die religiöse Bigotterie, die man im Dortmund der 2010er Jahre wohl als nicht mehr relevant betrachtet, sondern die Sexualisierung. Die Akteure finden jede Menge Schlüpfrigkeiten in dem verwendeten Text. Wenn Dorine berichtet, Tartuffe habe Orgons Gattin Elmi(re) seine „Workshops“ angeboten, weiß jeder, was gemeint ist. Überlang ist die provozierte und am Ende doch glücklich fehlschlagende Verführungs-Szene zwischen Tartuffe und Elmire im Wohnwagen, die auf die Außenwand des Mobils projiziert wird. Bettina Lieder gelingt im Prolog zu dieser Szene eine fulminante Wutrede. Auch die beiden die Amor-Putten beschmusenden Laurents lassen homoerotische Phantasien bei der Betrachtung ihres körperbetont verhüllten Unterleibs zu. Als später eine dritte Putte aus der Unterbühne auftaucht, dient sie Frieder Langenberger und Mario Lopatta als Stütze, um einander zu vögeln. Homoerotisch, aber eher mechanisch als lustvoll: Die Liebe ist kein Engelchen mit Flügeln, kein dicker Säugling, der mit Pfeilen schießt, wusste schon Ulla Hahn: Die Liebe ist ein Engel von den vielen, die Gottes Rache aus dem Himmel stieß.

Dennoch: Das alles langweilt, denn die Aufführung hat kein Timing und ihr Witz keinen Esprit. Französisch ist an der grotesken Komödie nur das Nationalitätskennzeichen am Wohnwagen. Da hilft auch nicht mehr die wie angepappt wirkende, aber gelungene Schlussszene: Der Dortmunder Sprechchor wird zu einer Combo aus polizeilichen dei ex machina und erlöst Orgon von dem Bösen – vom bigotten Heuchler und Verführer Tartuffe, von der Strafverfolgung, vom Verlust des Vermögens. „Wir leben in einem Staat, der die Korruption ahndet.“

Na ja, stimmt ja halbwegs, auch wenn’s sicher kritisch gemeint ist und Deutschland gerade beim Korruptionsindex von Transparency International auf Rang 12 zurückfiel. Bei der weiß gekleideten, grenzdebilen Gesellschaft bricht nicht nur Freude, sondern vor allem Chaos aus. Sie tanzt wieder zum dumpfen Wummern der Bässe - leer im Kopf und ungeil. Beim Tanzen finden sich Paare – gleichgeschlechtliche und gemischtgeschlechtliche. Vielleicht hüpfen sie anschließend miteinander in die Kiste. Wie heißt es so schön: Dumm bumst gut.