Verteidigen wir die Gedankenfreiheit!
„Come as you are“, steht in großen Lettern über Daniel Wollenzins Bühnenbild. Aber der einzige, der kommt wie er ist, unverkleidet im Schlabber-Pulli, ist der Großinquisitor, unprätentiös und fast beiläufig gespielt von Karin Pfammatter. Ganz am Ende tritt er auf, und er hat, wie sich herausstellt, in dem komplexen Intrigenspiel, von dem Friedrich Schillers Don Karlos berichtet, die einzige von echten humanistischen Idealen beseelte Figur gesteuert – unauffällig, hinterlistig, ohne Wissen seiner Marionette, des heldenhaften Marquis Posa. Die Inquisition tritt auf wie sie ist.
Alle anderen müssen sich verkleiden. Sie treten auf in historisierenden Kostümen, Zitaten aus der Welt des Tyrannen Philipp II. im 16. Jahrhundert. Und sie sprechen, von ganz wenigen Sätzen abgesehen, die kaum modernisierte Schiller’sche Sprache: Sie sprechen viel, sie sprechen laut, und sie sprechen manchmal allzu outriert. Regisseur Alexander Eisenach, am Düsseldorfer Schauspielhaus vor zwei Jahren bereits einmal in Erscheinung getreten mit einer gelungenen, aber weithin unterschätzten Dramatisierung von Leif Randts Science Fiction SatirePlanet Magnon, inszeniert zum ersten Mal in seiner noch jungen, aber schon vielversprechenden Karriere einen Klassiker. Und er macht es sich und seinem Publikum nicht leicht.
„Come as you are“. In der nur sparsam mit Musik angereicherten Inszenierung erklingt endlich Kurt Cobains Nirvana-Song. Aber nix is mit Alltagskleidung wie heute in vielen Klassiker-Inszenierungen üblich. Keiner der Schauspieler kommt as he is – aber der Nirvana-Song geht ja auch weiter: „Come … as you were / as I want you to be.“ Schillers Figuren müssen sich alle verbiegen. Besser: Sie verbiegen sich freiwillig, weil sie Intrigenspiele spielen, weil sie um Macht und Einfluss kämpfen, weil sie eifersüchtig oder rachedurstig sind, weil sie Völker unterdrücken und ihren Sohn manipulieren wollen, weil sie Völker retten und ihren Freund schützen wollen, weil sie taktieren und komplexe Manipulationsmechanismen zu bedienen versuchen, die sie am Ende aber nicht mehr beherrschen können. Am Ende geht eins ganz sicher unter, allem Humanismus des Marquis Posa zum Trotz: das Vertrauen in Freunde, Berater und Familie. Verlierer ist die Wahrheit: Nicht nur der Zuschauer hat angesichts der verwickelten Handlung Mühe durchzublicken: Auch die handelnden Figuren haben, bei Lichte betrachtet, kaum eine Chance, die wahren Absichten ihres Gegenübers zu durchschauen. Alexander Eisenachs Inszenierung bringt das recht offensichtlich zum Vorschein. Ihr Start ist wie eine Überschrift: Pater Domingo, Beichtvater des Königs und ein eher sinisterer Typ in Schillers Drama, von Alexej Lochmann als ernsthafter, mit Herzog Alba kooperierender Strippenzieher im Hintergrund gespielt, eröffnet die mehr als dreieinhalbstündige Aufführung nicht mit den schönen Tagen von Aranjuez, die jeder Spanien-Reisende zitieren kann, sondern mit seiner Forderung nach Wahrheit. Aus dem Parkett, wo sich der eine oder andere Schauspieler versteckt, erklingt es abwinkend: „Wahrheit, ja, ja …“ Die Wahrheit hat es schwer am Hofe Philipps II.
Die Freiheit hat es noch schwerer. Die Freiheitsträume der Figuren – offen bei Karlos und Posa, verdeckter bei der Königin – haben in einem Staat, der von einer despotischen Regierung und einer unbarmherzigen Kirche gesteuert wird, keine Chance auf Realisierung. Selbst der Monarch, den Wolfgang Michalek herausragend als brutalen, rücksichtlosen und arroganten Machtmenschen und Zyniker gibt, zuletzt als resignierten Untertanen der Inquisition, ist letztlich nur eine Marionette. Aber wie sein Freiheitsbegriff aussieht, verdeutlicht unter anderem sein Umgang mit seinem Sohn Karlos, der sich für die von Philipp unterdrückten Niederländer in den flandrischen Provinzen einsetzt: „Solche Kranke wie du, mein Sohn, verlangen Aufsicht und stets die Pflege eines Arztes.“ Das ist ein veritabler Tritt in den Unterleib, und die Freiheit ist gleich doppelt erledigt: die des Karlos und die der Niederländer. (Tatsächlich allerdings ließ der Hof Philipps II. im 16. Jahrhundert verbreiten, der Infant Carlos sei geisteskrank, was historisch weder verbürgt noch widerlegt ist.) - Philipp zeigt sich bei Schiller vorübergehend von dem Mut und der Aufrichtigkeit des Marquis Posa beeindruckt. Aber wenn es im Umfeld des Herzogs Alba (Sebastian Tessenow mit der Gelfrisur und dem Schnurrbart eines Mafioso und zahlreichen Auftritten durch die Geheimtüren des Bühnenbildes) heißt: „Freiheit ist der Mut zur Selbstermächtigung“, klingt das zumindest ambivalent, wenn nicht gar nach dem Freiheitsbegriff totalitärer Denker.
Ambivalent wirkt auch die Inszenierung von Alexander Eisenach. Die Kernszene, in der der Marquis Posa in schonungsloser Offenheit dem Monarchen ins Gewissen redet und ihn eindringlich bittet: „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!“, gelingt André Kaczmarzyk mit selten gesehener Eindringlichkeit. Lang sich dahinziehende erste zwei Stunden mit einer viel zu großen Fokussierung auf die Liebes- und Eifersuchtsszenen zwischen Karlos, Elisabeth und der Prinzessin Eboli kulminieren plötzlich in einer hochspannenden, auch emotional packenden politischen Rede des Posa, die hochaktuell wirkt. Dramaturg Frederik Tidén hatte in der Einführung berichtet, man habe sich zu Beginn der Proben damit beschäftigt, was Freiheit heute bedeute, und sei zu dem Schluss gekommen, dass der heutige Begriff von Freiheit sich von dem Schillers kaum unterscheide. Nun lässt sich kaum abstreiten, dass in unseren westlichen Demokratien das Maß an Freiheit der Bevölkerung im Vergleich zur Zeit Schillers geradezu unermesslich groß ist, aber dennoch trifft Posas Appell ins Herz. So wie André Kaczmarczyk sich in Rage redet, bewegt von dem Engagement seiner Figur zur Weltverbesserung, begreifen wir, dass auch wir die Freiheit und die Demokratie zu schützen haben, die in vielen uns befreundeten Staaten, aber auch von den rechten und linken Rändern des politischen Spektrums in Deutschland in Frage gestellt wird. Philipp jedenfalls wird nachdenklich und fragt: „Was ist heute Gedankenfreiheit?“
Die zu Beginn zuweilen zerfasernde und in ihrem allzu großen Pathos manchmal auch ärgerliche Inszenierung gewinnt nach der Pause an Dichte und Relevanz. Das Bühnenbild, vor der Pause ein eher flaches, gewächshausartiges Gebilde mit der einen oder anderen Geheimtür, dem einen oder anderen Versteck als Abhöranlage des 16. Jahrhunderts, ist nun umgebaut zu einem Military Camp. Der Wachturm der Burg, zuvor am hinteren linken Bühnenrand dräuend und Erinnerungen an die DDR-Diktatur weckend, rückt nun ins Zentrum. Karlos gewinnt an „erwachsener“ Aggressivität: Zuvor hatte Jonas Friedrich Leonhardi mit Netzstrumpfhosen und an heutige Rechtsradikale erinnernder Frisur zwar die überlieferte Hässlichkeit der historischen Person verkörpert und damit möglicherweise auch die Zerrissenheit seiner Figur sinnbildlich dargestellt, aber sein Aufbegehren hatte auch etwas von dem Trotz, der Rebellion und der Selbstüberschätzung eines Pubertierenden gehabt. Die Liebe der attraktiven Eboli, von Lou Strenger mit kokettem Witz und, als sie, durch einen Probenunfall gehandicapt, einmal ins Wanken gerät, einem großartigen Extempore in Schiller’scher Sprachmanier gespielt, ist da kaum glaubhaft. Karlos bleibt ein Spielball, sein Kampf aber wirkt überzeugender. Elisabeth, von Lea Ruckpaul etwas zu zurückgenommen gespielt, bietet Philipp Paroli und schlägt sich später die Stirn blutig: „Dann fließe Blut“, hatte der uneinsichtige Gemahl gewütet und das natürlich ganz anders gemeint. Grandios ist die Szene der Ermordung Posas: Hunderte von roten Bällen hageln aus dem Schnürboden herab und knallen auf den Boden wie Maschinengewehrkugeln. Kaczmarczyk gießt eine Flasche Theaterblut vor sich aus und reibt Gesicht und Hände damit ein – ein leises, trauriges, blutrotes Ende des Freigeists und Freiheitskämpfers.
Das sind gelungene Bilder – sie zeigen die Brutalität des Regimes mit einer gewissen Distanz, als Theaterbild anstelle von brutalem Realismus. Insgesamt hat Alexander Eisenach keine Angst vor Schiller’schem Pathos – zu wenig Angst, denkt man manchmal, denn manche Figuren agieren bisweilen allzu outriert. Allerdings wird das Pathos bisweilen von netten Gags und hübschen kleinen Bildideen gebrochen – so wenn der kaum erwachsen scheinende Karlos beim ersten Treffen mit Elisabeth, der ihm gleichaltrigen Gattin seines Vaters und seiner vorherigen Verlobten, unter den schützenden schwarzen Kokon kriecht, zu dem Elisabeth sich verpuppt hat. Lea Ruckpaul gehört auch einer der letzten Sätze einer allzu langen Inszenierung. Sie zitiert aus dem 9. Brief von Schillers „Ästhetischer Erziehung des Menschen“: „Lebe mit deinem Jahrhundert, aber sei nicht sein Geschöpf.“ Ein bisschen ist das wie Posas Rat an Karlos, sein Herz „nicht (zu) öffnen dem tötenden Insekt besserer Vernunft.“ Nehmen wir es mit als Ratschlag für das 21. Jahrhundert: Leben wir mit seinen Annehmlichkeiten, aber bewahren wir uns unsere Unabhängigkeit. Verteidigen wir die Gedankenfreiheit gegen alle Anfeindungen von außen!