Utopie einer ICHSUCHE
Mitten im schwarzen Bühnenraum führt eine breite Stahltreppe auf ein etwa zwei Meter hohes, umzäuntes Plateau, darüber senkrecht zwölf grelle Leuchtröhren: Ein cooles Bühnenbild (Bühne: Ansgar Prüwer).
Das Licht im Saal ist noch an, da stürmt von hinten ein Trupp junger Leute in den Zuschauerraum, drängelt sich zwischen die Stuhlreihen.
„Ganz ehrlich, das wird ne gute Nummer heute.
Wir sind perfekt vorbereitet.
Wir haben gut gegessen.
Wir sind Gewinnertypen.
Wir sind auf den Punkt fertig geworden.
Jeder wird heute Abend seine Momente haben!“ ruft Lisa, die „Antreiberin“, wie sie sichselbst einschätzt.
Und dann zählen sie ihre „Momente“ auf:
„Ich bin hier die Verrückte, in mich werdet ihr euch ein bisschen verlieben.“
„Ich werde einen wahnsinnig eindrucksvollen Monolog halten.“
„Ich bin der authentische Typ. Da ist nichts fake oder so. Das sind alles zu hundert Prozent meine Geschichten. Immer wenn ich was sage, ist das direkt aus meinem Leben.“
„Ich werde zum Schluss einen sehr berührenden Song singen, aber ich weiß noch nicht, ob das klappt, weil ich bin ja gerade im Stimmbruch.“ (Das könnte stimmen, denn Ji-Hun ist gerade mal 14 Jahre alt.)
„Ich bin hier dabei, weil ich mega gut Schlagzeug spielen kann.“ (Später wird er allerdings das Instrument als „angedeutete Scheiße“ beschimpfen.
„Ich werde eine mega romantische Szene spielen. Wir werden uns hier auch küssen! Auf die Szene warte ich seit vier Monaten!“
„Peer Gynt!“ rufend,stürmen sie auf die Bühne und beschwören uns, das Publikum, unsgemeinsam mit ihnen so einiges vorzustellen.
„ Ihr müsst euch vorstellen, dass…“
Es folgt eine endlose Reihung der geforderten Vorstellungen: die Spielorte (von Norwegen bis Kairo), Landschaften (Gebirge, Meere, Wüsten), die persönlichen Bekenntnisse (seien sie Wahrheit oder Fiktion), nicht zuletzt die literarische Vorlage:
IHR MÜSST EUCH VORSTELLEN:
DAS
HIER
WÄR
PEER GYNT.
„Wir werden natürlich nicht das ganze Stück erzählen. Weil es geht ja um uns. Ihr wollt ja uns kennenlernen. Wir sind hier bei der Bürgerbühne, da geht’s darum, dass man von sich erzählt“.
In dieser Szene ist bereits zusammengefasst, was die Faszination dieser Aufführung ausmacht: den zehn jungen Leuten (von vierzehn bis zweiundzwanzig) aus aller Herren Länder (was vor allem an ihren ungewöhnlichen Namen erkennbar ist) gelingt es, die unterschiedlichen Spielebenen mitreißend und überzeugend miteinander zu verweben.
Zunächst einmal gehen sie ganz problemlos mit der Theater-Situation um, sprechen uns unbekümmert an, nennen sich untereinander bei ihren alltäglichen Namen, erzählen von sich, um im nächsten Moment in die Bühnenrollen zu schlüpfen: in bizarr-fantastische Troll-Maskeraden, in anrührende Liebesszenen oder Diskurse um die immer wiederholte Frage nach der eigenen Identität. Dabei dürfen die persönlichen Biografien durchaus durch Neuerzählung und Umdeutung hinterfragt und alternativ erfunden werden. Fiktion und Wahrheit, Traum und Wirklichkeit, Sehnsucht und Ängste sind kaum zu entflechten.
Und dann ist da noch die dritte, ständig präsente Ebene der titelgebenden literarischen Vorlage: Ibsens PEER GYNT. Von den jungen Leuten wird der fragwürdige Titelheld - der Abenteurer und Phantast, der notorische Lügner und waghalsige Lebenskünstler - in einigen Szenen durchaus auch als animierendes Idol interpretiert. Denn was sie, allen Irritationen zum Trotz, mit ihm verbindet, ist zum einen die Suche nach Liebe und Anerkennung und zum anderen die rasend vorgetragene Lust am Widerspruch. Zudem gibt der Ibsen-Text spielerisch eindrucksvolle Vorlagen, etwa bei der sturmgepeitschten Seefahrt, bei der das Plateau auf dem drehbaren Bühnengestell bestens als Schiffsreling dient und die überbordende Spielfreude der jungen Leute sich wunderbar austoben kann. Ganz im Ibsen-Text sind sie dann wenig später, wenn die ergreifende Sterbeszene der Mutter Aase (sie stirbt, bevor Gynt zurück ist) als dramaturgischer Gegenpol sehr ruhig erspielt wird. „Das ist die einzige Stelle im Stück, in die ich michhineinfühlen konnte“, sagt Ima Abbasi, die in dieser Szene die Mutter spielt, und tritt damit wieder heraus aus der literarischen Rolle.
Doch dann steigen sie plötzlich alle ganz aus der literarischen Vorlage aus.
„Peer Gynt ist alt geworden…Wir könnten aufhören.Wir hören hier auf!...Wir machen einfach unser eigenes Leben!“
Noch ein kurzes Verwirrspiel, ein Song auf die Jugend und die Aufforderung an uns:
Ihr müsst euch vorstellen: DAS HIER WAR PEER GYNT.
Während Ibsen in seinem Versepos seinen norwegischen Bauernburschen vom trollhaften Spinner zum gescheitert heimkehrenden, schuldig gewordenen Greis führt, steigen die jungen Leute hier einfach aus. Sie wollen sich ihre Utopie nicht nehmen lassen. Ein kurioser, doch überzeugender Schluss nach mitreißenden neunzig Minuten.
Ibsen schildert 1867 in seinem „dramatischen Gedicht“ Peer Gynt das Drama einer durch Egoismus und Selbstbetrug verfehlten Selbstverwirklichung und - wie uns die leidenschaftliche, authentische Befragung des Textes durch die Jugendlichen zeigt - hat das Stück für den modernen, Orientierung und Identität suchenden Menschen nichts an Inspiration verloren. Dabei greift Ibsen auf märchenhafte und mythische Elemente alter nordischer Volksmärchen zurück, so auch in der Titelgestalt Peer Gynt, und sprengt damit den Rahmen des naturalistischen Dramas seiner Zeit. Ähnliches geschieht durch symbolische Figuren, wie etwa den „Knopfgießer“ (als Tod im letzten Akt), die „Grüngekleidete“, den „Großen Krummen“ und all die Trolle (die Elemente des neuzeitlichen Symbolismus vorwegnehmen). Interessant, dass auch die jungen Leute das ganze Arsenal an bildstarken Fabelwesen auffahren lassen und überzeugend in ihre eigene, spektakuläre Bühnenarbeit übernehmen.
Das ungewöhnlich junge Premieren-Publikum dankte mit jubelndem Applaus für eine temperamentvolle, rundum gelungene Aufführung