Bilanz eines Lebens
Magnus Vattrodt, 1972 in Karlsruhe geboren, studierte Theaterwissenschaft und wurde als Drehbuchautor bekannt, u.a. für mehrere Tatort-Folgen. Seine Produktionen erhielten den Grimme-Preis, die Goldene Kamera, den Deutschen Fernsehpreis - um nur einige Auszeichnungen zu nennen. Mit Ein großer Aufbruch adaptierte er erstmals eines seiner Drehbücher für die Theaterbühne. Die Uraufführung fand 2017 am Theater Regensburg statt.
Ein großer Aufbruch befasst sich mit dem Thema Sterbehilfe, welches nach wie vor heftig diskutiert wird. Untrennbar verknüpft mit einer schonungslosen Abrechnung mit dem Leben der zentralen Figur: Holm. Er, der Freunde und Familie zu „einem letzten Abendmahl“, wie seine Tochter Marie zynisch anmerkt, einlädt, will seinen Abgang mittels Sterbehilfe in der Schweiz ganz groß inszenieren. Ist er doch inoperabel krank und will selbst über sein Ende entscheiden: „Ich finde es ganz wunderbar, wenn man bei seinem eigenen Leichenschmaus dabei ist.“ Er zog sich in ein Haus am See zurück, in dem nun diese Zeremonie im Rahmen eines Essens im Kreise der Menschen, die ihm in seinem Leben lieb waren, stattfinden soll. Doch es kommt anders. Die Freunde und seine zwei Töchter akzeptieren keineswegs Holms Entscheidung.
Holm, Ingenieur im Ruhestand und früherer Entwicklungshelfer in Afrika, ist, so der Autor, „jemand, der zutiefst überzeugt davon ist, sein Leben für das Gute und Wahre gelebt zu haben“. Er glaubt, sich mit großer Geste aus dem Leben verabschieden zu können. Ohne auch nur in Betracht zu ziehen, dass die um ihn Versammelten Kritik an seinem Vorhaben äußern könnten. Im Laufe des Abends wird so manche Lebenslüge entlarvt und das makellose Selbstbildnis Holms zerfällt immer mehr. Sieht er sich als idealistischen Weltverbesserer und fantastischen Vater für seine zwei Töchter, so werden diese Vorstellungen schnell ad absurdem geführt.
Dem Regisseur Gustav Rueb ist ein überzeugender Abend gelungen. Dank eines hervorragenden Ensembles und eines schlichten, aber gerade deshalb beeindruckenden Bühnenbildes – ein langer Tisch, einige Stühle - Assoziationen zum Letzten Abendmahl drängen sich auf – wird der Blick fokussiert auf das Beziehungsgeflecht zwischen den Anwesenden, oft ironisch und zynisch und deshalb witzig beleuchtet. Dennoch bleibt am Ende nicht ein schaler Nachgeschmack. Rueb: „Aber es gibt eine Restwärme. Es läuft auf einen versöhnlichen Abschied hinaus. Für mich ist das große Thema das Verzeihen – sich selber und den anderen.“
Jens Winterstein, in Cordhosen und Barbourjacke, glänzt als selbstgerechter Holm („Auf mein wunderbares, großartiges Leben mit euch.“), der sein Leben als überaus gelungen betrachtet. Marie (Floriane Kleinpaß), die erfolgreiche und ambitionierte Anwältin, hat da ganz andere Erinnerungen und tritt daher sehr aggressiv auf. Die jüngere Tochter Charlotte (Silvia Weiskopf) hat nie etwas in ihrem Leben erreicht und dem Vater nichts entgegenzusetzen. Zumal sie auch durchaus positive Erinnerungen an die Kindheit in Afrika hat. Ella, Holms Exfrau und Ärztin mit einem früheren Drogenproblem, wird von Monika Bujinski als entspannte Betrachterin der heftigen Debatten der anderen gespielt. Ines Krug ist Katharina, die Frau von Holms gutem, äußerst langmütigem Freund Adrian (Thomas Büchel). Unzufrieden und streitbar greift sie ihren Mann wegen seiner „affigen Nibelungentreue“ Holm gegenüber an und bezeichnet ihn mehr als einmal als Waschlappen. Und da ist noch Maries Freund Heiko, ein erfolgreicher Anwalt und Kanzleichef (Jan Pröhl), der erst spät am Abend den Menschen hinter der Attitude eines Businessman zeigt.
Die fast zwei Stunden vergehen wie im Flug. Man verlässt das Theater durchaus bestens unterhalten und wird sich dennoch sicher im Nachhinein mit dem Thema Sterbehilfe auseinandersetzen. Wer sollte an der Entscheidung eines Einzelnen, sich das Leben zu nehmen, teilnehmen? Gibt es das Recht einer Person, Familie und Freunde auszuschließen? Sicher nicht.