Fortsetzung einer Winterreise
Im November 2017 berichtete die ehemalige österreichische Abfahrtsläuferin Nicola Werdenigg, unter ihrem Mädchennamen Nicola Spieß Vierte bei den Olympischen Winterspielen in Innsbruck 1976, sie sei im Alter von 16 Jahren von einem Nationalmannschaftskollegen vergewaltigt worden. Ermutigt durch das Outing von Werdenigg meldete auch die ehemalige britische Sportlerin und heutige Sportjournalistin Helen Scott-Smith eine Vergewaltigung durch einen österreichischen Skitrainer im Jahre 1993; zahlreiche weitere Fälle werden derzeit untersucht. Der mächtige Präsident des Österreichischen Skiverbandes Peter Schröcksnadel drohte mit einer Anzeige – gegen Werdenigg, die als Nestbeschmutzerin beschimpft wurde. Davon will heute niemand mehr etwas wissen; Schröcksnadel, in der Vergangenheit auch im Zusammenhang mit diversen Doping-Skandalen schon durch dubiose und widersprüchliche Aktionen aufgefallen, geriert sich inzwischen als Saubermann. Namen von des Missbrauchs verdächtigen Trainern oder Ex-Sportlern sind bislang nicht bekannt; investigative Journalisten glauben, anhand von Regierungsakten die von der österreichischen Politik unterstützte Vertuschung eines eklatanten Missbrauchsfalls bei einem Skirennen in Zakopane nachweisen zu können, in dem der Beschuldigte einer der größten Skihelden des Landes, der im Jahre 2009 verstorbene Toni Sailer, war.
Solche Geschehnisse und Gerüchte sind natürlich ein gefundenes Fressen für die dem Sport in jahrzehntelanger Abneigung verbundene Elfriede Jelinek. In ihrer circa neunzigseitigen Textfläche Schnee Weiß – Die Erfindung der alten Leier verwurstet sie Motive des Ski-Skandals, des Machtmissbrauchs, der (sich nicht nur in sexuellen Übergriffen materialisierenden) Gewaltphantasien und der Doppelmoral. Kein Mensch wird all die literarischen Vorbilder identifizieren, aus denen sich Jelineks assoziative Texte bedienen, aber die Autorin steht dem Rezensenten hilfreich zur Seite, indem sie ihrem Stück eine Art Literaturverzeichnis beifügt. Dort finden sich die antiken Helden Sophokles und Euripides neben Nietzsche und Sigmund Freud, Marie Bonaparte und Oskar Panizza – „und vieles mehr“. Vor allem Panizzas Das Liebeskonzil und Nietzsches Menschliches, Allzumenschliches / Zur Genealogie der Moral dienen der Autorin als Folie für ihre gewohnt kalauernde, aber auch bissig-satirische Textfläche. Panizzas Religionskritik wird in Beziehung gesetzt zu den Missbrauchsfällen und die erpresserische Machtausübung in der Kirche, die ebenso wie die Fälle des Missbrauchs im Sport erst in jüngerer Zeit ans Tageslicht kommen; sie thematisiert Scham und Schuldgefühl der Opfer sexueller Gewalt sowie die unterschiedlichen Mechanismen der Verdrängung auf Seiten der Täter und der Opfer und die Doppelmoral bei der Aufklärung.
Der Kölner Schauspiel-Chef Stefan Bachmanns hat mit seiner Inszenierung von Jelineks Winterreise bewiesen, mit welcher Sensibilität und Empathie er sich den Texten dieser schwierigen Autorin zu nähern versteht. Verdientermaßen erhielt Köln daher den Zuschlag für die Uraufführung von Jelineks neuestem Streich, obwohl dieser sich schwerpunktmäßig mit einem bei Flachlandtirolern eher weniger in den Fokus gerückten Stoff beschäftigt. Die Aufführung beginnt, als handele es sich um eine Fortsetzung von Bachmanns genialischer früherer Jelinek-Inszenierung: Erneut besteht das Bühnenbild im Wesentlichen aus einer Schräge, die die Stars unter halsbrecherischen Verrenkungen auf den Brettern, die dem Wintersportler die Welt bedeuten, hinunterwedeln, und erneut dudelt in bester Après-Ski-Manier DJ Ötzis Super-Hit „Ein Stern, der deinen Namen trägt“. So endete Bachmanns „Winterreise“, und so beginnt nun „Schnee Weiß“. Doch Musik und Hüttenzauber steigern sich: „Ich verkaufe meinen Körper / ganz, ganz billig“ grölt der unsägliche Peter Wackel, und zu Rex Gildos „Fiesta Mexicana“ wird erstmal bunt durcheinandergefickt. Abenteuerlich sind die Kalauer, die Sex und Skifoan kurzschließen und die Spalten der Gletscher mit denen der Frauen assoziieren oder das Einfädeln einer Beziehung mit minderjährigen Abhängigen mit dem Einfädeln beim Riesentorlauf. Was wir sehen und hören, hat Witz und Schwung, ist Kitsch und Trash – und ist doch ein erschreckender Blick auf die bodenlos dümmliche und frauenverachtende Welt, die Jelinek selbstverständlich nicht nur im Skisport ausgemacht hat. Allerdings plappern die Schauspieler genauso aufgedreht wie die Musik plärrt – affirmativ also, anstatt den Sarkasmus der Textvorlage zu betonen.
Während die Aufführung sich thematisch verbreitert und die Kostümbildner immer neue, bisweilen auch rätselhafte Metaphern finden, bleibt die Sensibilität der sprachlichen Interpretation gering. Die Schauspieler brüllen, schreien und hämmern ohne Unterlass – und vor allem ohne Differenzierung. Eine wohltuende Ausnahme ist die 79jährige Margot Gödrös. Sie gibt Gottvater im Rollstuhl – und in manchen Textpassagen wohl auch den gottgleichen ÖSV-Präsidenten Schröcksnadel. Gödrös spricht reflektiert und setzt wohlüberlegte Schwerpunkte in harschem, zynischem Ton. – Auch Gottes Sohn sticht aus dem Ensemble heraus: Peter Knaack steigt als Hängetitten-Jesus aus einer erschlagenen Kuh und wird an ein Kreuz genagelt, das aus einem seiner beiden Skier besteht. „Herunter kommen sie alle“, kalauert er: „Ich kam rauf. Mit ein bisschen Hilfestellung kam ich rauf aufs Gerät.“ Auch Knaack gelingt es, mit glasklarer Diktion den Sarkasmus der Vorlage zum Klingen zu bringen. Die Kreuzigung des Jesus, so begreifen wir, ist im Grunde ebenso ein körperlicher Übergriff wie der sexuelle Missbrauch im Sport. Zugunsten des Sports, so sieht es Jelinek, haben die Österreicher auch Missbrauch mit der Natur getrieben: „Wir haben Berge nach ihrer Eignung für den Sport ausgewählt …, wir haben mit (Schnee-)Kanonen auf Spatzen geschossen, mit Kanonen auf Ihre schöne, hausgemachte Natur … Und das lassen Sie sich gefallen?“, wird Gottvater gegen Ende des Abends von einem „Boten“ gefragt. „Es wird rückhaltlose Aufklärung gefordert, ich meine Aufklärung aller Missbrauchsfälle zum Beispiel an der Natur.“
Auffällig ist auch Simon Kirsch als körperloser Kopf mit einem langen, furiosen Monolog, der auf Marie Bonapartes Über die Symbolik der Kopftrophäen beruht. Kirsch macht das gut, mäandert in seinem Monolog von der Entziehung des Körpers als Strafe für die Vermeidung von Sport über Phallustrophäen bis hin zu latenten Kastrationsphantasien. Man muss bei Jelinek als Zuschauer nicht immer mitkommen, aber die nur zwei Stunden währende, gefühlt sich jedoch sich erheblich länger dehnende Inszenierung macht es einem auch nicht einfach. Die Textfassung zu kritisieren, verbietet sich bei einer Jelinek-Inszenierung allerdings, denn jeder Regisseur und jeder Dramaturg muss aufs Neues mit der Machete durch das wuchernde Assoziationsgestrüpp der überlangen Texte gehen und eigene Schwerpunkte setzen. In jüngeren Texten baut Jelinek sich stets auch selbst ein; Lola Klamroth taucht mit riesigem Putten-Kopf das eine oder andere Mal als Alter Ego der Autorin auf, ohne dass diese Facette des Dramas diesmal im Vordergrund stünde. Doch steckt der in Köln gespielte Text voller Schlüpfrigkeiten und Obszönitäten sowie voller ausführlicher Reflexionen über die weiblichen Genitalien und ihre Befriedigung – auch das ist eine in den jüngeren Texten von Jelinek immer stärker zu Tage tretende Obsession. Auch in Bachmanns Winterreise-Inszenierung war diese Thematik angeklungen – voller Empathie. In Schnee Weiß schrammen die entsprechenden Passagen phasenweise knapp an der Peinlichkeit vorbei.
Die Winterreise hatte mit elf feiernden Amateur-Skifahrern auf einer Aussichtsplattform geendet. „Immer dieselbe Leier“, hatten die sich über die Autorin mokiert. Nahtlos hat Bachmann nun an die letzte Szene der Winterreise angeknüpft in einem Stück, das Jelinek mit „Die Fortsetzung der alten Leier“ untertitelt. Schnee Weiß endet mit einem abrupten Themenwechsel: mit der Ermordung von Kim Jong Nam, des in Ungnade gefallenen Bruders des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-Un, auf dem Flughafen von Kuala Lumpur. Das dürfte ein Hinweis auf das nächste Stück der Jelinek sein. Auch wenn wir mit Schnee Weiß nicht wirklich glücklich wurden, freuen wir uns auf die Fortsetzung der alten Leier.