Eine düstere politische Clownerie
Bei Lichte betrachtet, kommt man wohl um die Erkenntnis nicht herum: Das Stück von Ödön von Horváth wirkt arg konstruiert. Zur schönen Aussicht ist der Name eines Hotels. Wo es liegt, werden wir nicht erfahren, eine schöne Aussicht hat man dort wohl nicht, denn es gibt offenbar weder Balkon noch Terrasse. Das Innere der Fremdenpension erscheint hermetisch abgeschlossen. Einziger Gast ist die Baronin Ada Freifrau von Stetten, die Horváth in einer zu Zeiten kreischender Kampf-Emanzen längst nicht mehr salonfähigen Sprache als „ein aufgebügeltes, verdorrtes weibliches Wesen mit Torschlusspanik“ beschreibt. Um die Freifrau herum lungern zwielichtige Gestalten wie der kleinkriminelle Kellner Max, der Chauffeur und ehemalige Totschläger Karl und der abgehalfterte, längst der Insolvenzverschleppung verdächtige Hoteldirektor Strasser. Dann gibt es noch den schmierigen Schaumweinvertreter Müller, der wohl nicht nur bei Strasser vergeblich seine Außenstände einzutreiben versucht, und einen Baronessen-Zwilling namens Emanuel, der all sein irgendwann einmal vorhanden gewesenes Vermögen beim Glücksspiel verloren hat. Außer der Dörrfleisch-Ada sind alle pleite; moralisch bankrott sind sie sowieso, und so ist die Aussicht für das Hotel und seine Insassen nicht schön, sondern bescheiden. Ada pflegt dies zumindest in sexueller Hinsicht für sich auszunutzen. Angesichts der prekären Finanzlage trifft es sich gut, dass das blonde Glück Christine auftaucht, ein Feriengast vom vergangenen Jahr, der den Hoteldirektor lange vergeblich zur Anerkennung der Vaterschaft für das gemeinsam gezeugte Kind zu bringen versucht hatte. Jetzt bekennt Christine, eine nennenswerte Erbschaft gemacht zu haben. Postwendend wendet sich die Männerwelt von Ada ab und Christine zu, mit der alle plötzlich vor einem Jahr geschlafen haben wollen. Christinchen kriegt da gerade noch so die Kurve.
Soweit der Plot, soweit die in manchen Inszenierungen arg klippklapp machende Mechanik des Stückes. Horváth hat es bereits im Jahre 1926 zusammengeschustert, uraufgeführt wurde es erst 1969, und seit einigen Jahren wird es relativ viel gespielt: Gier und moralische Verkommenheit sind ja seit 2008 wieder in aller Munde. Aber Regisseur und Intendant Ulrich Greb hat am Schlosstheater Moers noch einen anderen Zugriff gefunden, mit dem man die verkommene Personnage aufs Kreuz legen kann. Den liefert ihm Ödön von Horváth in Person des mit allerlei völkischem Gedankengut und deutschnationalen Parolen um sich werfenden Sektvertreters Müller. Greb macht aus dem Stück eine bissige Satire wider den rechtsnationalen Populismus und die Versuche zur europäischen Desintegration.
Das enge Verlies des Moerser Schlosstheaters ist eine natürliche Metapher für die Klaustrophobie und die selbstgewählte Isolation, mit der sich die Figuren in diesem Hotel gegen fremde Einflüsse abschotten. Manchmal erhebt sich ein merkwürdiger anschwellender Lärm als flöge ein Düsen-Jet im Tiefflug über das Hotel oder als grabe eine große Bohrmaschine unter dem Saal einen Tunnel. Dann zittern Menschen und Mobiliar, und die Tischdecken samt Geschirr rutschen auf den Fußboden. Vielleicht sind es imaginierte Ängste der Hotel-Insassen vor den Einflüssen von außen - aufgeklärt wird das nicht, aber eine Bedrohung in den Köpfen ist dieser Lärm schon. Die Bühne von Birgit Angele wird von einer schrägen Spiegelwand gedoppelt, so dass der Speisesaal des Hotels mit seinen gedeckten Tischen größer wirkt als es die Räumlichkeiten des Theaters zulassen. Die schöne Aussicht ist Fake, aber der Spiegel gilt wohl auch uns. Die Zimmer des Hotels spiegeln sich nicht: Sie liegen unterm Tisch. Wie von Geisterhand bewegen sich Tische oder Tischdecken, wenn Hoteldirektor Strasser (mit Mafiosi-Sonnenbrille: Matthias Heße) oder Chauffeur Karl (Frank Wickermann) die Baronin (Magdalene Artelt) vögeln. Der Kellner (Roman Mucha) weiß von korrupten Charakteren in Portugal zu berichten. Karl greift mit rassistischen Beschimpfungen den Baron an. Und der Ton ist gesetzt: Armut, moralische Verkommenheit, Fremdenfeindlichkeit. Die völkisch aufrechten Menschen im Hotel tragen ausnahmslos schiefe knatschgelbe Blondhaar-Perücken; die blonde, blauäugige nordische Rasse ist dem Schöpfer ein wenig missraten.
Christine taucht auf - mit goldenem Haar, Margarete. Ihren grauen Kittel wirft Elisa Reining sofort ab, um Horváths Regieanweisung Genüge zu tun und mit einem rosa Kleidchen zumindest für einen halben Lichtblick in dieser Personnage zu sorgen. Christine strahlt ganz beseelt - niemand von den anderen wird jemals das Gesicht zu einem Lächeln verziehen. Im Gegenteil: Baron Emanuel (Patrick Dollas) ruft nach den Behörden: „Eindringling!“ Horváths Hotel ist Sartres Hölle, aber zur Hölle gemacht hat es erst die darin vegetierende Geschlossene Gesellschaft mit ihrer Fremden-Phobie. „Hier wird kein Millimeter Heimaterde mehr preisgegeben“, wettert der bei Lena Entezami zwischen nationalkonservativ und nationalistisch changierende Schaumwein-Müller, der in der Moerser Inszenierung vom Vertreter zum Generaldirektor aufgestiegen ist. In der stark karikierenden Inszenierung verbindet die Figur mit hellsichtiger Klarheit den aufkommenden Nationalsozialsozialismus zur Entstehungszeit des Stückes mit dem erstarkenden Rechtspopulismus von heute. Angereichert sind Entezamis Texte mit Zitaten der ehemaligen Tagesschausprecherin und heute mit oft neurotisch anmutenden Thesen argumentierenden Rechts-Publizistin Eva Herman. Scheinbar harmlose Musik plärrt aus dem Radio, doch auch sie transportiert letztlich völkisches Gedankengut und steigert sich ab und an zum zackigen Marsch.
Wunderschön wird die Spiegelwand noch einmal genutzt, als Christine zum Abendessen schreitet. Längst ist das Chaos ausgebrochen in dem anfangs so perfekt gedeckten Speisesaal. Stumm und schön taucht im Spiegel nun die junge Frau, Hoffnungsträgerin des Stückes und vermeintliche Bedrohung für die Hotel-Insassen, hinter den wild aufeinandergestapelten Stühlen auf. Die Männer rotten sich zusammen, um Christine zu kompromittieren. Sie werden zunächst verbal, später auch körperlich gewalttätig, und für Christine beginnt ein Alptraum, der sich erst spät wieder auflöst. Als sie später als reiche Erbin erkannt wird und die Männer um sie buhlen, bewacht Karl sie mit der Pistole.
Nein, dies ist kein Volkstheater-Schwank mehr, zu dem manche Inszenierungen die Horváth-Stücke machen: Dies ist eine faschistoide Hetzjagd, der sich Christine ausgesetzt sieht. Ulrich Greb hat eine großartige Regiearbeit abgeliefert und ein durchdachtes, trotz weitgehender Beibehaltung der Struktur und des Wordings von Horváths Text weitgehend eigenständiges Kunstwerk geschaffen. Es ist eine düstere politische Clownerie, aber auch etwas Nihilistisches zeichnet die Inszenierung aus: die Abwesenheit von Gott. „Man muss an Gott glauben, aber er hilft nicht mehr“, heißt es einmal. Im Gegenteil: Die Gesellschaft implodiert. Wurde vorher zum Erschrecken des Publikums manches Mal lautstark, aber ohne casualties mit der Pistole herumgeballert, knallen sich die Protagonisten am Ende gegenseitig ab - lautlos, in aller Stille. Nur Christine reist ab - in einer Art grünem Raumfahreranzug. Und an der Seitenwand der Bühne fällt der Christus vom Kreuz.
Hoteldirektor Strasser deckt alle Leichen zu und richtet seine Gaststube wieder ein. Zum ersten Mal nach Jahren klingelt das Telefon. Vielleicht ist ja noch nicht alles zu spät. Nach den dunklen Jahren des Faschismus, den Horváth heraufziehen sah, begann schließlich auch der Wiederaufbau und der Siegeszug der Demokratie.