Außerirdisches Bühnenabenteuer
„Got to keep the loonies on the path“, singt Roger Waters in „Brain Damage“ - dem Song, dem auch die titelgebende Zeile von Pink Floyds legendärem Konzeptalbum „The Dark Side of the Moon“ entstammt. Doch das Raumschiff aus Ray Bradburys Kurzgeschichte Kaleidoscope ist längst explodiert. Um die mond- und sternesüchtigen Raumfahrer auf dem rechten Weg zu halten, ist es zu spät. Die Astronauten haben keine Zeit gefunden, um nach der Explosion ihre Rückstoßgeräte mitzunehmen, und so treiben sie auseinander - in Richtung Mond, in Richtung Leere, einer auch in Richtung Erde. Stone fliegt mit einem Meteoritenschwarm davon und wird sich vielleicht noch Millionen von Jahren inmitten eines wunderschönen Kaleidoskops an Farben bewegen. Zu Beginn sind die Raumfahrer noch durch Funkgeräte miteinander verbunden, so dass sie noch miteinander kommunizieren können. Aber sie wissen, dass es keine Chance zum Überleben gibt. For them, the dam broke open many years too soon, and there is no room upon the hill.
Völlig losgelöst von der Erde lässt Regisseur Michael Heicks die Astronauten Hollis, Stone, Lespere und Applegate in seinem großartigen Medley aus Ray Bradburys Text und Pink Floyds Musik durch den Weltraum fliegen. „And if your head explodes with dark forebodings too / I'll see you on the dark side of the moon“, singt Roger Waters. Sie werden einander nicht wiedersehen - es sei denn, sie treffen sich tatsächlich an irgendeinem dem Diesseits abgewandten Ort unseres Universums, der bislang noch nicht erforscht ist, irgendwo im Jenseits auf der anderen Seite des Mondes. Was aber denken sie, when the dam breaks open many years too soon, wie entwickeln sich ihre bilateralen Beziehungen im Angesicht des sicheren Todes, welche letzten Wünsche und Sehnsüchte haben sie? Sind im Moment des Sterbens Erinnerungen an vergangenes Glück tröstlicher als Gedanken an unerfüllte Träume?
Bradburys Geschichte berührt diese letzten Dinge, erzählt aber auch von den letzten Gefahren des ungeschützten Fluges durch den Weltraum. Er lässt die Astronauten in einen Meteoritensturm geraten; Hollis wird von einem vorüberfliegenden Meteoriten zunächst die Hand und später auch der rechte Fuß abgeschlagen, aber er wird keinen Schmerz empfunden wegen des Schocks und der unmittelbaren Wiederherstellung seines Druckluftanzuges. Applegate rupft noch ein Hühnchen mit dem ungeliebten Captain des Raumschiffs, der noch in aussichtsloser Situation seine Autorität in die Waagschale zu werfen versucht. Er versöhnt sich auf den letzten Drücker mit seinem Rivalen Hollis. Der wiederum erlöst einen angsterfüllt vorübergleitenden Kollegen durch einen gezielten Faustschlag in die Glasmaske, die seine Sauerstoffzufuhr sichert. Lespere prahlt mit seinem Reichtum an Geld und an Frauen. Applegates Kopf explodiert nicht nur mit dunklen Vorahnungen, sondern ganz real, so dass nur ein kleiner Finger von ihm übrigbleibt. So geht diese Mannschaft, die trotz aller Rivalitäten so effizient zusammengearbeitet hat, dahin. Ihr Geist zerfällt wie die Scherben eines Kaleidoskops.
Auf der Bühne im Theater Bielefeld fliegen Jan Hille, Christina Huckle und Thomas Wehling scheinbar unversehrt weiter und singen das Album von Pink Floyd zu Ende, grandios begleitet vom dem Detmolder Arminio Streichquartett und der Pianistin Dariya Maminova. Großartig interpretieren die fünf Musiker die Lieder der britischen Rock Band, die durch die klassische Instrumentierung weicher, harmonischer und sehnsuchtsvoller wirken. Im Zusammenspiel mit dem originalgetreu wiedergegebenen Text von Bradburys Short Story verleihen die Songs dem Abend eine perfekte Balance zwischen Pathos und Poesie. Auch wenn - wie im Titelsong - oft nur einzelne Textzeilen das Geschehen aus Bradburys Short Story zu beschreiben scheinen, werden Pink Floyds Musik und Texte zur perfekten Begleitung des außerirdischen Bühnenabenteuers. Roger Waters „Money“, etwas weniger harmonisch interpretiert als die meisten übrigen Songs, kommentiert geradezu mit bissiger Ironie das Festhalten Lesperes an irdischen Werten wie Reichtum im Augenblick des sicheren Todes.
Die großartigen Videos von Sascha Vredenburg mit ihren sehnsuchtsvollen Bildern gehen mit der Musik und dem Text eine wundervolle Symbiose ein und verstärken den Eindruck von Leichtigkeit und Melancholie. Gleich zu Beginn schweben die drei Schauspieler angeseilt vom Schnürboden und bleiben auf mittlerer Höhe vor Projektionen der Erdkugel oder des Weltraums hängen, um in dieser mutmaßlich nicht allzu komfortablen Lage ihre Texte zu sprechen und ihre Lieder zu singen. Gelegentlich scheinen hinter ihnen Bilder vom Alltagsleben auf der Erde auf, das den Astronauten künftig versagt bleiben wird. Es sind Bilder von Familien beim Frühstück, beim Genuss einer Zigarette - und es sind Bilder von der Natur, nachdenklich machende Bilder unserer Welt. „Breathe, breathe in the air / Don’t be afraid to care“, singen die Schauspieler dazu. Unmittelbar zuvor hatte die Aufführung des Astronauten Reinhard Furrer zitiert: „Ich hätte mir gewünscht, dass die Menschen mich nach meiner Rückkehr gefragt hätten, wie es mir dort ergangen ist. Wie ich mit der glitzernden Schwärze der Welt fertig geworden bin, und wie ich mich als Stern, der die Erde umkreist, fühlte.“ Das klingt ein bisschen pathetisch, wiewohl passend zum Thema des Abends. Gerade hat Alexander Gerst seine mehr als sechsmonatige Mission auf der Internationalen Raumstation ISS beendet. Er schickte von dort eine aufrüttelnde „Botschaft an meine Enkelkinder“ und rief zu einem sorgfältigeren Umgang mit unserem Planeten auf. Auch das steckt auf unaufdringliche Weise in Vredenburgs Bildern und Heicks Inszenierung. Don’t be afraid to care!
Einmal noch etwas Gutes zu tun, ist auch der letzte Wunsch des von Thomas Wehling wunderbar verkörperten Hollis, des sympathischsten der Raumfahrer auf der Bielefelder Bühne. Der Wunsch wird in Erfüllung gehen. Hollis ist das einzige Besatzungsmitglied des havarierten Raumschiffs, das zur Erde zurückkehren wird. Beim Eintritt in die Erdatmosphäre verglüht er wie eine Sternschnuppe und wird entdeckt von einem kleinen Kind. „Wünsch dir was“, sagt seine Mutter. Und nicht nur das Kind, sondern auch der Rezensent ist glücklich.