Übrigens …

Der Sandmann im Westfälisches Landestheater Castrop-Rauxel

Furcht und Vernunft

Maximilian von Ulardt wirkt wie die Hektik in Person. Wetzt über die Bühne wie ein Getriebener, hängt eine Leine auf und klemmt Augenpaare daran fest. Große und kleine, alle ziemlich gruselig anzuschauen. Dann erst kehrt etwas Ruhe ein, der Schauspieler hockt sich nieder, fängt an zögerlich zu schreiben. Vor uns beginnt der Student Nathanael seine Geschichte aufzufächern. In raschem, bisweilen flüsterndem Tonfall formuliert er die zu Papier gebrachten Worte. Es ist die Erzählung vom grausamen Sandmann, von jenem Schauermärchen, das sich wahnhaft ins Gehirn des jungen Gelehrten eingebrannt hat. Mündend eben in jener wilden Aufgeregtheit, in panischen Träumen, letztendlich im (unglücklichen) Sturz vom hohen Turm.

Der Sandmann, E.T.A. Hoffmanns düster-romantisches Nachtstück, das später sogar einem Edgar Allen Poe als Inspiration seiner rabenschwarzen Erzählungen diente, hat an den Theatern der Region derzeit Konjunktur. Als Kooperation zwischen den Ruhrfestspielen Recklinghausen und dem Düsseldorfer Schauspiel war die ausgefeilte, bildmächtige Interpretation Robert Wilsons zu sehen. Im Herbst nahm sich Oberhausen des Stoffes an und präsentierte den traumatisierten Nathanael als lebensgroße Gliederpuppe. Nun also, im Studio des Westfälischen Landestheaters zu Castrop-Rauxel (WLT), gibt Maximilian von Ulardt das Stück als virtuose Ein-Mann-Performance, der gleich in mehrere Rollen schlüpft. Und schließlich sei nicht vergessen, dass im Februar das Dortmunder Kinder- und Jugendtheater zur Sandmann-Premiere einlädt.

Wobei erwähnt sei, dass auch das WLT seine Zielgruppe zuerst an Schulen verortet. Die auf eine Stunde sinnfällig komprimierte Fassung ist für Jugendliche ab 15 Jahren gedacht. Das schließt jedoch nicht aus, und die besuchte Abendvorstellung hat es bewiesen, dass Erwachsene dem Geschehen ebenfalls gebannt folgen können. Zwar erleben wir nicht das große Überwältigungstheater, doch die kleine Form, mit ihren Sprecheffekten, Gesangseinlagen, Verwandlungen und emotionalen Achterbahnfahrten, hat durchaus ihren Reiz. Zudem wirkt die Bühne, gestaltet von der Regisseurin Jolanda Uhlig, trotz spartanischer Ausstattung mit nur wenigen Requisiten immer als die Blicke anziehender Fixpunkt.

Uhlig inszeniert innerhalb der gekürzten Fassung nah am Text. Maximilian von Ulardt, ein wenig nach Hipster-Student aussehend, andererseits mit Anzug und farbenprächtiger Weste Hoffmanns romantischer Zeit angenähert, erzählt von den aufregenden, horriblen Begebenheiten in Briefen an seine geliebte Freundin Clara und deren Halbbruder Lothar. Zugleich treibt der Schauspieler das Geschehen erzählend voran, nie beiläufig, immer unter Spannung stehend. Und von Ulardt entpuppt sich als wandlungsfähiger Mime, der binnen Sekunden in die Rolle des zwielichtigen Wetterglashändlers Coppola oder des bösartigen Advokaten Coppelius schlüpft. Jener Coppelius, der in Nathanaels Fantasie der böse Sandmann ist und nicht bloß ein harmloser Alchemist. Dieser Sandmann spukt dem Studenten seit Kindheitstagen im Kopf herum, ist Stoff für seine Albträume: Denn, so heißt es, der Sandmann stiehlt den Kindern die Augen und gibt sie seinem Nachwuchs zum Verzehr.

So schwankt der arme Nathanael zwischen Furcht und Vernunft, zwischen Getriebensein und sorgloser Ruhe. Claras Bild an der Wand wirkt dabei als Ikone des Trostes und der Geborgenheit. Doch unvermittelt überkommt ihn der Wahn und er schmiert im Bildnis schwarze Striche unter die Augen des Mädchens – die Heilige wird zur blutenden Madonna. Und dann ist da noch Olimpia, die wunderhübsche, nur etwas kalt und ungelenk wirkende Tochter des Professors Spalanzani. In die sich der Student sogleich verliebt. Um am Ende mit diesem Automaten einen Totentanz zu zelebrieren, der in blanke Raserei mündet. Dann reißt der Wütende dieser makellos weißen Schaufensterpuppe alle Glieder aus, teuflisch dabei lachend und bitterlich schluchzend.

Der Sandmann am WLT kommt also als effektvolles Theater daher. Das mit bescheidenen Mitteln gleichwohl gehörige Suggestivkraft entwickelt. Das sich sehen lassen kann.