Übrigens …

Extrem laut und unglaublich nah im Burghofbühne Dinslaken

Die Traumata von Oskar und seinem Opa

Elfmal – Oskar hat mitgezählt - hat Vater in der letzten Stunde seines Lebens angerufen. „Es geht mir gut“, hat er gesagt, zuerst mit klarer Stimme, später mehr und mehr hüstelnd. Und: „Wir werden jetzt aufs Dach geführt. Das ist wahrscheinlich eine gute Idee.“ – Vaters letzte Lebenszeichen befinden sich auf dem Anrufbeantworter, den Oskar in seinem Kleiderschrank versteckt hat und wieder und wieder abhört. Vater hat seine Familie nicht mehr erreicht. Den letzten Versuch einer Kontaktaufnahme hat Oskar live mitgehört, aber ihm fehlte der Mut, das Telefonat anzunehmen. Dann brach die Leitung zusammen. Das war wohl der Moment, in dem der Turm des World Trade Centers zusammenbrach. Vater wird in einer pompösen Zeremonie für die niemals aufgefundenen Opfer des Anschlags vom 9. September 2011 zu Grabe getragen – in einem leeren Sarg.

Das ist das Setting von Jonathan Safran Foers im Jahre 2005 erschienenem Erfolgsroman Extrem laut und unglaublich nah, den Mirko Schombert, der Intendant der Burghofbühne Dinslaken, jetzt auf die Bühne gebracht hat. Oskar ist traumatisiert von diesen Anrufen und vom Verlust seines Vaters, den er über alle Maßen geliebt hat. Mit seiner Mutter und seiner Großmutter spricht er nicht über die Anrufe. Aber er macht sich auf die Suche nach einer Hinterlassenschaft seines Vaters, möglicherweise einer Botschaft, die er ihm und seiner Familie zurückgelassen hat: Oskar findet einen Schlüssel in einem Briefumschlag, den Vater mit dem Wort „Black“ beschriftet hat. Black, so glaubt Oskar, muss ein Name sein. Und so macht er sich auf den Weg, zumindest alle New Yorker unter den 9 Millionen Menschen zu besuchen, die auf den Namen Black hören. Einer von ihnen muss etwas über seinen Vater und den geheimnisvollen Schlüssel wissen. Tatsächlich wird einer der Blacks ihm am Ende enthüllen, welche Bewandtnis es mit dem Schlüssel hat. Das Ergebnis ist unspektakulär und für Oskar eigentlich enttäuschend. Doch der Junge wird zur Ruhe finden – auch dank seines Großvaters, den er als solchen nicht erkennt, aber der ihm hilft durch einen gemeinsamen Besuch an Vaters leerem Sarg. Die beiden graben den Sarg aus. Großvater, sein Leben lang getrennt von seinem Sohn, begräbt all seine niemals versandten Briefe an Thomas in diesem Sarg. So macht auch er seinen Frieden mit einer unverarbeiteten Katastrophe.

Jonathan Safran Foer zieht Parallelen zwischen diesen beiden Katastrophen: Auch Oskars Großeltern sind einst beinahe in einem Inferno aus Feuer und einstürzenden Bauten umgekommen. Sie haben mit knapper Not die Bombardierung von Dresden im Februar 1945 überlebt, bei dem sie sämtliche Freunde und Familienmitglieder verloren haben, Auch Opas große Liebe, Großmutters Schwester Anna, „war nur noch eine Aschewolke.“ Nie wieder möchte Großvater jemanden so lieben; er heiratet zwar Annas Schwester, aber als diese mit Oskars Vater schwanger wird, verlässt Großvater die Familie. Kurz vor dem Anschlag auf das WTC kehrt Großvater zu seiner Frau zurück, bei der er nun als mysteriöser Untermieter lebt. Er ist ebenfalls schwer traumatisiert und nicht mehr in der Lage zu sprechen. Wohl aus eigentherapeutischen Gründen ist er künstlerisch tätig, bastelt an einer Skulptur von Anna und kommuniziert nur noch über Schrifttafeln.

Foers Roman ist ungeheuer verschachtelt und weist trotz seiner eher einfachen Sprache Elemente der experimentellen Literatur auf. Für die Theater-Adaption musste der Stoff stark gestrafft werden. Doch die wichtigsten Stränge bleiben in der Dinslakener Inszenierung erhalten: Oskars Suche nach den Blacks, seine Verlorenheit und seine Sehnsucht nach dem Vater, die zarte, unaufdringliche Beziehung zu seiner Großmutter, das allenfalls neutrale Verhältnis zu seiner Mutter – und vor allem die Parallelgeschichte von Oskars Großeltern, die dem Geschehen eine zusätzliche Dimension verleiht und eine andere Art von unverarbeiteter Trauer vorführt.

Allerdings überfrachtet die Vielfalt der Motive den trotz fünfzehnminütiger Pause nur ca. 110 Minuten kurzen Abend. Wenn zum Beispiel Oskars Rolle als Yorick (der Totenschädel!) in einer Schulaufführung des „Hamlet“ mehrfach erwähnt und in einer humorvollen Szene nach der Pause ausführlich ausgespielt wird, hat die Metapher des traumatisierten Jungen in der Rolle eines Totenschädels theoretisch etwas sehr Dunkles, Berührendes. Aber weder findet ein Erschrecken beim Zuschauer statt noch erhält die Szene in Schomberts Inszenierung eine Bedeutung. Die qualitativ recht heterogenen Schauspieler haben in der denkbar ungeeigneten Ausweichspielstätte im Tribünenhaus der Dinslakener Trabrennbahn, in dem die Burghofbühne während des Umbaus ihrer traditionellen Spielstätte Asyl gefunden hat, einige Mühe, über die Rampe zu kommen. Viel zu groß ist dieser Raum, alle Zuschauerreihen stehen ebenerdig vor der etwas verloren wirkenden hölzernen Bühnenkonstruktion von Jörg Zysik, und drumherum ist elend viel Platz, in dem sich die angestrebte atmosphärische Wirkung verflüchtigen kann. Dennoch gelingt es vor allem nach der Pause ab und zu, mit Hilfe von Musik und Licht eine intensive, beklemmende Atmosphäre zu schaffen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem die Erzählung von dem Bombenangriff auf Dresden, als „Hunderte von Flugzeugen … grellrote Christbäume (abwarfen).“ Im abgedunkelten Raum evozieren die Gräuel des Bombenangriffs grauenerregende, tief ins Herz gehende Bilder im Kopf des Zuschauers, und tatsächlich reimt sich plötzlich der 11.September 2001 auf den 13. Februar 1945.

Es sind die beiden Traumatisierten, die auch schauspielerisch durchgängig überzeugen können. Jan Exner ist nicht nur für die Musik zuständig, sondern er stemmt auch die Doppelrolle des Vaters und des Großvaters. Vor allem in der Rolle des stummen, tief in seinem Inneren eine große Warmherzigkeit unter Verschluss haltenden alten Mannes zieht Exner die Aufmerksamkeit und Sympathie des Zuschauers auf sich. Die Figur des Oskar hat Jonathan Safran Foer als Referenz an Günter Grass‘ Blechtrommler Oskar Matzerath erfunden. Überzeugend bringt Julia Sylvester als Oskar 1 (die Figur ist aufgespalten in drei Oskars, wobei Julia Sylvester die unbestrittene Anchor Person der Inszenierung und der Figurenzeichnung ist) diese Referenz über die Rampe. Ihre Sprache und ihre Mimik ergeben eine spannende Mischung aus Altklugheit, großer Ernsthaftigkeit und kindlicher Naivität und erinnern von fern tatsächlich an die Darstellung von David Bennents Matzerath aus Volker Schlöndorffs „Blechtrommel“-Verfilmung. Einmal summt sie leise und melodisch zu Exners musikalischer Begleitung einer Spielszene und lädt den sterilen Raum mit Poesie auf. Dass hier große Verbrechen gegen die Menschheit aus Kinderperspektive erzählt werden, verfehlt ihre Wirkung nicht. Manche Sätze merkt man sich, weil sie wie eine Handlungsanleitung für die Trauerarbeit bei gleichzeitiger Akzeptanz eines neuen Lebens nach dem Verlust geliebter Menschen wirken: „Ich war noch nie so einsam und so lebendig zugleich“, sagt Ruth Black (Malte Sachtleben) zu Oskar. Sie hat ihren Mann verloren und nimmt nach einiger Zeit die Gewohnheit wieder auf, von der Aussichts-Terrasse des Empire State Buildings seinen Heimweg zu verfolgen. Tagsüber hat sich nichts verändert, denn bei Sonnenlicht konnte man seine Scheinwerfer auch früher nicht identifizieren.

Das alles könnte maximal berührend sein, denn Peter Hellings Romanbearbeitung für das Theater vermeidet jeglichen Kitsch, der der Handlung durchaus innewohnt. Aber so recht angepackt wird der Zuschauer in Dinslaken nicht. Ein wenig mehr Zuspitzung, ein wenig mehr Rhythmus- und Tempowechsel hätten der Inszenierung vielleicht gutgetan: Vielleicht haben Schombert und sein Leitungs-Team gespürt, dass der Abend ein wenig matt zu geraten drohte, und deshalb Ansätze von Mitmach-Theater eingearbeitet. Keine Angst, die sind nicht peinlich. Aber Pep in die Sache bringen sie auch nicht. Etwas ratlos verlässt man daher den Ort des Geschehens, denn man möchte die wunderbaren Geschichten, die an diesem Abend erzählt werden, gern auch als emotionales Erlebnis mit nach Hause nehmen. Oskar, der große Erfinder, möchte gern eine Zeitumkehrmaschine erfinden, die seinen Vater wieder in ein heiles WTC und anschließend zurück in die Familie bringt. Für uns würde schon eine Emotionsverstärkermaschine genügen.