Maxim im Dortmund, Schauspielhaus

Nur halbes Happyend: Anne Leppers Odyssee im Weltraum

Ein Kinderstück von Anne Lepper? Die Autorin verfügt im zeitgenössischen Erwachsenen-Theater über ein hohes Renommée. Zwei ihrer Dramen waren bereits zu den Mülheimer „Stücken“ eingeladen; Mädchen in Not (siehe hier) wurde im Jahre 2017 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis für das beste deutschsprachige Stück des Jahres ausgezeichnet. Aber Leppers Texte sind oft extrem verkopft, wimmeln vor nur vom literarischen Bildungsbürgertum zu identifizierenden Bezügen und Anspielungen und bedürfen zum Verständnis ihrer Komplexität einer intensiven Auseinandersetzung. Auch in ihren öffentlichen Auftritten wirkt die Autorin extrem kontrolliert und kopfgesteuert. Und jetzt ein Kinderstück von Anne Lepper? Kann das gutgehen?

Es kann. Anne Leppers Maxim ist bereits die zweite Zusammenarbeit der Autorin mit dem Kinder- und Jugendtheater Dortmund. Bei Ach je die Welt im Jahre 2015 handelte es sich um eine gemeinsame Projektarbeit für Jugendliche ab 14 Jahren über Industriegebietskinder. Diesmal ist die Zielgruppe noch jünger. Maxim wird annonciert als Stück für Kinder ab neun Jahren. Die Aufführung feierte im April 2018 ihre Premiere und musste aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung eines der Hauptdarsteller nach der 2. Vorstellung vom Spielplan genommen werden. Jetzt ist der Betroffene wieder fit und gehört zu den Leistungsträgern der wieder aufgenommenen Inszenierung.

Lepper schafft es tatsächlich, sich in die Welt von 9jährigen Kindern zu versetzen und gleichzeitig ihre Gewohnheit fortzusetzen, ihre Texte mit allen erdenklichen literarischen Bezügen aufzuladen. So hat auch der erwachsene Zuschauer seine Freude an den Märchen- und Kinderbuch-Motiven, die vom Kleinen Häwelmann über den Struwwelpeter bis zu den Wilden Kerlen reichen. Lied-Zitate erstrecken sich vom Bi-Ba-Butzemann bis zu Paul Linckes Frau Luna, von Iggy-Pops Night Clubbing über die Pet Shop Boys („Together / we will go away“) und Kraftwerk bis zu David Bowies und Hubert Kahs diversen Sternenhimmel-Songs. Wer will, kann in der Odyssee der Titelfigur Max und seinem unerschütterlichen Optimismus sowie der fragwürdig endenden Beziehungsgeschichte zu Mary-Lou Parallelitäten zu Voltaires Candide entdecken. Wie Voltaires Titelheld muss der langsam in das Alter der Pubertät hineinwachsende Max erkennen, dass er alles andere als „in der besten aller möglichen Welten“ lebt, und er macht sich auf die Reise, diese ideale Welt anderswo zu suchen: im Weltraum, auf dem Mond. Doch weder Mond noch Sonne entpuppen sich als lebenswerte Alternativen - im Gegenteil: Es kommt einem Büchners grausam-trauriges Märchen aus dem Woyzeck in den Sinn, wenn die Kinder vor der Mondpolizei fliehen müssen, die Sonne sie feindselig abweist und sie am Ende… ja, wohin eigentlich?… jedenfalls nicht zur Erde zurückkehren.

Zitatensatt ist also Leppers Stück, und dennoch kommt es in Andreas Gruhns Inszenierung ganz leicht daher. Es geht, das ist von der ersten Szene an klar, um Außenseitertum und Identitätsfindung, um Ausgrenzung, Anpassungsdruck und Mobbing. Und es geht um eine Utopie: „Vielleicht“, so überlegt der nach der Wiederaufnahme von Jan Westphal ganz wunderbar empathisch verkörperte Max(im) gleich zu Beginn, „vielleicht sollte man die Liebe zu seinem Ziel machen.“ Max ist halt ein idealistischer Träumer, und wohl nicht zuletzt deshalb hält er sich an Wesen, die ihn nicht verletzen: Er spielt mit Puppen. Das ist in der Klasse längst sozial nicht mehr akzeptiert; selbst sein bester Freund wendet sich von ihm ab, wiewohl er sich Mühe gibt, Max in der Gemeinschaft zu halten. Max wird gemobbt - doch mobbt er auch selbst: besagte Mary-Lou, die ein wenig pummelig geraten ist - „zu dick“, befindet man einhellig. Aber Mary-Lou ist hartnäckig: Als Max samt seinen Kuscheltieren Bär und Hund (Andreas Ksienzyk als Bär ist in seiner lakonischen Zugewandtheit ein echter Herzensbrecher für den erwachsenen Zuschauer) zum Mond aufbricht, springt die überhaupt nicht fette Ann-Katrin Hinz in Maxims Häwelmann-Bett und reist einfach mit. „Du bist zu dick“, wird es von Station zu Station heißen, doch Mary-Lou versucht es mit einer halbwegs erfolgversprechenden Strategie zur Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls: „Ich mag mich“, sagt sie, wenn auch nicht immer aus voller Überzeugung. Hinz findet für den Behauptungswillen der jungen Mary-Lou für ein Kindertheater ungewöhnlich differenzierte Zwischentöne: Mary-Lou wirkt unaufdringlich, fast scheu, aber doch beharrlich und von gewissem Mutterwitz. 

So fliegen sie denn durch Arabellas Wunderwelt und erreichen tatsächlich den Mond. Es ist eine Flucht, vor der Minz und Maunz, die Katzen des Dr. Hoffmann, warnen. Doch bei ihrer Ankunft zeigt sich der Mond von seiner besten Seite: Oliver Kostecka hat eine Traumlandschaft mit Science Fiction-Elementen entworfen. Solche wunderschönen SciFi-Figuren sind auch die Mondelfen, die Kinder, Bär und Hund nun umtanzen. Unglück, Kriege und Familienzwistigkeiten, die Max auf der Erde beklagt, scheinen nun hinter den Reisenden zu liegen. Das Dilemma zwischen Freiheit und Ordnungspolitik klingt an: Max ist einigermaßen irritiert, dass es auf dem Mond weder eine Regierung noch eine Gesetzgebung geben soll, aber wie immer hat der wortkarge Bär den richtigen Spruch: „Hier kann jeder der sein, der er ist. Differenz muss man aushalten können.“ Was für ein wunderbarer Satz in einem Theater für 9jährige, wenn er so gesagt wird, dass die Kinder ihn garantiert begreifen! Doch Max ruft sich zum König aus und erklärt den Menschen zur Krone der Schöpfung. Allerliebst kommt diese Szene daher, die doch den Lehrerinnen und Lehrern eine großartige Vorlage gibt, das Thema der Ausgrenzung - und der Ausgrenzung durch den (einstmals) Ausgegrenzten zu erörtern. Es ist die Stärke von Leppers Stück, dass es kaum Schwarz-Weiß-Zeichnungen gibt, keine einfachen oder richtigen Lösungen angeboten werden und auch die wichtigsten Figuren sowohl positive als auch negative Eigenschaften haben - Kuscheltiere ausgeschlossen. Differenz muss man halt aushalten können …

Doch die wahren Machthaber auf dem Mond sind die Leute von der Mondpolizei. Und das sind ziemlich mörderische Gesellen. Unsere Freunde fliehen zur Sonne; Minz und Maunz warnen zu Recht - siehe oben. Am Ende schweben die vier Weltraum-Reisenden dann in die Utopie. Sie umarmen einander, und Mary-Lou ist endlich wie selbstverständlich mit von der Partie. Mary-Lou, die anfangs mit Paul Lincke ein „Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe“ gesungen hatte, und Max, der „die Liebe zu seinem Ziel machen“ wollte, scheinen sich endlich gefunden zu haben. Doch das Raumschiff mit den vier glücklichen, hoffnungsfrohen Kreaturen kehrt nicht zur Erde zurück. Es setzt seine Odyssee im Weltraum fort, und ob die Utopie jemals erreicht werden wird, ist nicht entschieden. Immerhin, Minz und Maunz, die Katzen, miauen nicht mehr: Kinder dürfen die Umarmung als Happyend nehmen. Wir Erwachsenen aber wissen: Es geht immer so weiter unter dem Jägermond.