Ungeliebte Spurensuche
Der Philosoph und Soziologe Didier Eribon, 1953 als Sohn einer Putzfrau und eines Hilfsarbeiters in Reims geboren, besuchte als erstes Familienmitglied eine Universität, zunächst in Reims, dann in Paris. Aufgrund dieses so ganz anderen Lebens und auch wegen seiner Homosexualität entfremdete er sich seiner Familie und hatte fast 30 Jahre keinen Kontakt zu ihr. Erst anlässlich des Todes seines Vaters, über den Eribon sagt: „Nichts hat uns verbunden.“, kehrt er nach Reims zurück. Seine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen beschreibt Eribon in seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Buch. Eine seltsame Mischung aus autobiographischen Notizen und soziologischen Analysen.
„Das, wovon man losgerissen wurde oder sich losreißen wollte, bleibt ein Bauteil dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wirkt im Erwachsenenalter fort, selbst wenn man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben.“
Zusammen mit seiner Mutter blickt Eribon auf Episoden seiner Kindheit und Jugend zurück, die ihn unwiederbringlich formten, trotz aller Versuche, sich als intellektueller Aufsteiger (optisch erkennbar an Brille und Jackett) vom heimischen Arbeitermilieu abzugrenzen. Damit verbunden war auch sein Coming out als Homosexueller – ein Unding in einer Familie mit einem homophoben Vater.
Thomas Jonigk inszenierte Rückkehr nach Reims am Kölner Schauspiel, wobei es ihm gelang, gerade die Emotionen von Didier Eribon mit treffenden Bildern zu veranschaulichen.
Die Bühne im Depot erinnert an ein Lagerhaus, eine Treppe führt zu einem Steg, der zusätzliche Auftritte und Abgänge ermöglicht. Der Protagonist wird von Jörg Ratjen beeindruckend in all seiner Zerrissenheit dargestellt. Empfindet er doch ein schlechtes Gewissen, zum Beispiel bei dem Wiedersehen mit seiner Mutter, die ihm durch harte Arbeit und auf Kosten ihrer Gesundheit die akademische Karriere ermöglichte.
Ihm zur Seite stellt Jonigk zwei Alter Egos, die manchmal auch Didiers Text sprechen. Zu Beginn umtanzen sich diese beiden jungen Männer (Justus Maier, Nicolas Lehni) in einer Art homoerotischen Schautanzes mit zeitweise engen Umarmungen. Ratjen, alias Didier Eribon, sagt, sein Buch in der Hand: „Ich war vor meiner Familie geflüchtet und verspürte nicht die geringste Lust, sie wiederzusehen.“
In Rückblenden berichten Ratjen und Sabine Orléans (glänzend als seine Mutter) von verschiedenen Ereignissen, so dem Besuch des an Demenz erkrankten Vaters in der Klinik. Nicki von Tempelhoff gelingt die Darstellung dieses gewalttätigen Mannes, der jedoch alles für die Familie tat und der sich mit fast poetischen Worten an seine eigene Jugend erinnert, hervorragend. In einer anderen Szene wird die fast unerträgliche Monotonie der Fließbandarbeit drastisch vorgeführt. Alle sitzen an einem langen Tisch und jeder führt immer wieder die gleiche Handbewegung aus. Dazu laute, gleichförmige Geräusche. Das Ganze scheint ewig zu dauern. Eribon versichert dem Publikum sein schlechtes Gewissen ob seiner negativen Äußerungen über die Arbeiterklasse. Sein „Spagat, in der einen Welt zuhause zu sein und gleichzeitig fremd“, gelingt immer weniger. Gegen Ende des Abends lässt Jonigk die Familie um einen in den Farben der Trikolore gehaltenen Tisch mit Wein und Baguette sitzen, sich zuprosten und – in sehr verlangsamtem Tempo sprechend und agierend – Parolen der Rechten äußern. Ist es in der Tat so, dass – wie zuvor von Ratjen deklamiert – die lange Jahre kommunistisch wählende Arbeiterklasse jetzt dieser neuen Orientierung folgt?
Ein Abend, der einen nachdenklich stimmt. Ein Abend mit einem exzellenten Ratjen, der das Bild eines zutiefst verunsicherten Menschen zeichnet. Aber auch ein Abend mit einem sehr guten Ensemble.