Übrigens …

Die Hamletmaschine im Fabrik Heeder Krefeld

Maschine hochgeschaltet

Tag der offenen Tür in Helsingör. Königin Gertrud serviert uns als ihren Gästen einen Rotwein. Das Königshaus hat eine Werbeagentur mit der Entwicklung einer neuen Corporate Identity Strategie beauftragt. Man will nahbarer werden; es gibt da schließlich einige unschöne Geschichten, die irgendwelche dubiosen Schreiberlinge namens Müller oder Shakespeare unters Volk gestreut haben. Heute empfangen uns die Hoheiten mit gespielter Wärme, großer Professionalität und aalglattem Auftreten zu einer Marketing-Veranstaltung. Der Schauspieler Bruno Winzen stellt das Projekt vor, Paul Steinbach sich selbst und Crescentia Dünßer fragt sich, ob es nicht möglich sei, auch nach 35 Jahren noch eingefahrene Handlungs- und Verhaltensmuster zu durchbrechen. Alles soll anders werden. Nur Ophelia zickt noch rum: Jannike Schubert sagt erstmal nix.

In all der heimeligen Wohlfühlatmosphäre wirkt dieser erste Ansatz, eine echte Shakespeare-Figur respektive ihre Müller-Überschreibung zu interpretieren, verstörend. Aber es wird jetzt tatsächlich etwas heinermüllerisch: „Ich bin Claudius“, sagt Michael Ophelders. „Ich bin Gertrud“, stellt sich Crescentia Dünßer vor. Shakespeare-Zitate folgen, staatstragend vorgetragen. Im Hintergrund Filmmusik. Elegant schwenkt der Abend zu der Szene der Beerdigung von Hamlets Vater, die Heiner Müller in der Hamletmaschine so sarkastisch schildert. Wir sehen die trauernde Königin am Arm des Mörders Claudius, ihre Tröstung in Form einer angedeuteten Begattung. „Auf dem leeren Sarg besprang der Mörder die Witwe“, heißt es bei Heiner Müller. Hamlet verweigert die Totenrede, nicht aber das gemeinsame Gruppenfoto – der Mann ist halt auf der Suche nach einer eigenen Position. Ausgerechnet als Claudius auf die bedrohliche politische Situation des Landes zu sprechen kommt, schrillen in der Fabrik Heeder die Alarm-Sirenen. Schauspieler und Zuschauer flüchten ins Foyer.

Dort gibt es für die Zuschauer keinen Wein mehr, aber Brot und Tee. Horatio ist der Berater des Prinzen Hamlet – auch in so wichtigen Fragen wie den preiswertesten Traueranzeigen. Gertrud führt vor, mit welchen Schimpfkanonaden mancherorts die Kindererziehung funktioniert. Bruno Winzen ist Hamlet und wechselt von Shakespeare-Zitaten zu Auszügen aus Heiner Müllers Hamletmaschine. Haus Helsingör führt das Alltagsleben einer Familie, in der der Hausfrieden allenfalls noch zum Schein gewahrt bleibt.

Wir wechseln wieder zurück in den großen Raum der verwunschenen Krefelder Nebenspielstätte mit seiner umlaufenden Empore, der inzwischen zum Thronsaal geworden ist: Wir sitzen nun auf der Spielfläche; etwas erhöht wurde dort, wo zuvor die Zuschauer gesessen haben, der Thron von Gertrud und Claudius aufgebaut. Beim nächsten Wechsel ins Foyer befinden wir uns in „Ophelias Zimmer“; beim übernächsten verwandelt eine Nebelmaschine den großen Raum in eine Außenspielstätte bzw. in einen Raum politischer Auseinandersetzungen und Entscheidungen. Gelockt von Gertrud, geführt von Horatio und immer wieder neu verköstigt vom Schauspieler-Team dackeln wir stets hinterher zu den neu definierten Aufführungsorten. So wie die Spielstätten wechseln (aber nicht unbedingt parallel dazu), wechseln auch die verschiedenen Ebenen der inhaltlichen Auseinandersetzungen: Sie betreffen die literarische Grundlage, die Politik, die Familie und nicht zuletzt das Theater. Immer wieder spielen die Regisseurin Nava Zukerman und ihre Schauspieler mit der Theatersituation.

Heiner Müller schrieb seinen nur neun Seiten kurzen Text Die Hamletmaschine parallel zu seiner Arbeit an der Neuübersetzung des Shakespeare-Dramas. Manche Müller-Exegeten bezeichnen den Text als das finsterste Drama des Gesellschaftsanalysten und Zukunftspessimisten. Die Hamletmaschine produziert eine düstere Reflexion über den moralischen Verfall und die Hoffnungslosigkeit in Politik und Gesellschaft. Im mit „Familienalbum“ betitelten Abschnitt findet Müller Bilder der Zukunftslosigkeit und der Rache; in anderen Abschnitten übt der zwischen der DDR und der Bundesrepublik pendelnde Autor scharfe Kritik an einem hohlen, sich mit Mauern und Formalien gegen Freidenker verbarrikadierenden Polit-System, das wie Hamlets Dänemark moralisch auf tönernen Füßen steht. Soldaten dienen solchen Systemen nicht zum Schutz eines lebenswerten Lebens, sondern zur Aufrechterhaltung einer gewaltsam errungenen Macht; zerrissene Identitäten der nur lose an den Shakespeare-Text angelehnten Figuren flackern auf. Leicht lassen sich unmittelbare Bezüge zu Heiner Müllers persönlicher, beruflicher und politischer Situation identifizieren. Müller erzählt nicht die „Hamlet“-Geschichte, sondern er nutzt die Shakespeare-Figuren zu einem finsteren Essay über Familie, Politik und Moral.

Nava Zukerman schaltet Müllers Hamletmaschine nun noch einen Gang höher und liefert eine Überschreibung der Überschreibung. Sie reichert den bereits im Jahre 1977 entstandenen Text wieder mit zahlreichen Original-Zitaten aus Shakespeares Hamlet an und führt ihn gleichzeitig sowohl von der persönlichen Geschichte Heiner Müllers weg als auch an die gesellschaftliche Situation der Gegenwart heran. So wie Müller die Shakespeare-Vorlage, nutzt Zukerman nun Müllers Hamletmaschine nur als Steinbruch und erarbeitet eine hochinteressante, wenngleich zwischen den verschiedenen Reflexionsebenen geradezu irrlichternde Gedanken-Collage. Alle oben genannten Motive aus der Hamletmaschine finden sich auch in Zukermans Inszenierung für die Vereinigten Bühnen Krefeld Mönchengladbach, die auf einer zweieinhalb Jahre alten Inszenierung am von ihr geleiteten Tmu-Na Theater Tel Aviv basiert und für Krefeld gründlich überarbeitet wurde. Das Familienalbum taucht ganz real auf: Gertrud zeigt dem Publikum Fotos von Hamlet als Heranwachsendem, dem kleinen Hamlet, der heute ziellos, aber voller Aktivitätsdrang vor uns auf der Spielfläche herumwuselt. Horatio zeichnet einen Kreidekreis um Claudius, Gertrud und Hamlet – sind sie spellbound wie durch einen Fluch höherer Mächte, oder ist es ein Versuch, die Kraft der Familie zu bannen und das Schicksal zum Positiven zu wenden? „Wir wollen doch nur dein Bestes“, sagen Mutter und Stiefvater und sind doch aufgrund ihrer Geschichte wenig überzeugend.

Paul Steinbachs Horatio ist es, der die gesellschaftlichen Aspekte der Inszenierung immer wieder in den Vordergrund rückt. „Die apolitischen Verse sind auch politisch“, behauptet er. Das ist ein alter Sponti-Spruch, der schon in den 1968ern seinen Ursprung hatte – es steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit darin. Hamlet sei doch nur ein Typ aus reicher Familie: „Dessen Probleme möchte ich haben.“ Und er erzählt von den Problemen weniger privilegierter Mitbürger: von einem bestens integrierten Freund tunesischer Abstammung, Mitglied der sogenannten besseren Gesellschaft, der sich kürzlich einem rechtsradikalen Angriff ausgesetzt sah. „Sie sind nicht Hamlet“, sagt er zum Publikum, „Sie sind Horatio“. Wir sind nicht die Privilegierten, wir sind der Querschnitt der Gesellschaft, der sich verhalten muss zu Radikalen und Populisten, aber auch zu den politischen Vorgaben der Mächtigen.

Für die wiederum ist König Claudius zuständig. Michael Ophelders ragt aus dem Kollektiv der Schauspieler heraus. Mit seinem souveränen, wie selbstverständlich behaupteten Führungsanspruch ginge er glatt als Vorstandsvorsitzender eines DAX-Unternehmens durch. Wenn Hamlet als Rekrut eingekleidet wird und Sand aus seinem Stahlhelm rieselt, bedankt sich Claudius bei seinem Volk für die Unterstützung bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht und der Erhöhung des Verteidigungshaushalts auf 2 % des Bruttosozialprodukts – da befinden wir uns plötzlich in der aktuellen politischen Diskussion. Mit der gleichen routinierten Sicherheit, mit der sie uns zu Beginn zum Tag der offenen Tür empfangen haben, geben Claudius und Gertrud eine Art Pressekonferenz zum Thema Ehrlichkeit in der Politik und parieren alle kritischen Fragen.

Ophelia bleibt die Frau mit der Verweigerungshaltung, aber nicht die Wortlose. Sie hat wütende Szenen, aber auch berührende: Auf die Frage, welche Ophelia Heiner Müller geschrieben habe und welche sie spielen möchte, antwortet Jannike Schubert mit Verzögerung. Und zwar mit einem Lied von Marianne Faithfull: „She lives alone with no one / Who can see she‘s unhappy / She knows what she lost / Still she is waiting for more…“ Nein, Ophelia, die Suizidgefährdete, die bei Shakespeare ins Wasser geht, ist „nicht die klassische Ophelia im weißen Kleid“, wie Jannike Schubert einmal sagt; sie widersetzt sich im schwarzen sexy Dress. Doch ihr gehören auch die zutiefst finsteren Schlusssätze aus Müllers Hamletmaschine: „Hier spricht Elektra. Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter. An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer...“ – Blutrot ist ihr Kleid nun. Und blutrünstig ist ihr Text. Wir aber mümmeln an der letzten Verpflegung, mit der uns der Hof bestochen hatte. Das Risotto ist lecker.

Wie hatte Claudius in seiner letzten Rede per Video gesagt: „Wenn du etwas als richtig erkannt hast, dann tu’s.“ In jedem Falle ist es richtig, diesen schwierigen, hochinteressanten Theaterabend zu besuchen.