Starke Bilder
Man könnte sie an die Wand klatschen, diese Anna Karenina. Maßlos ist sie, nicht zufrieden zu stellen, nicht von ihrem Ehemann, den sie verlassen hat, schon gar nicht von ihrem Geliebten, dem Rittmeister Wronski, der ihr niemals genug die Tiefe seiner Liebe beweisen kann. Ständig mäkelt sie, betäubt ihren Frust mit Morphium. Eine eigentlich wirklich unmögliche Person, wenn wir nicht gleichzeitig ihre Handlungen so gut nachvollziehen könnten. Denn Anna Karenina ist gefangen in einer Ehe und erlebt gleichzeitig eine neue Liebe, wird schwanger von Wronski. Sie begibt sich auf ganz dünnes Eis, indem sie ausbricht und dem Geliebten folgt in eine ungewisse Zukunft. Ist es da ein Wunder, dass sie unsicher reagiert, nicht weiß, wie sie sich verhalten soll?
Facettenreich wie die Titelheldin des Romans von Leo Tolstoi legt Regisseur Max Claessen alle Figuren an. Man kann ihr Verhalten verstehen, zugleich aber sind sie unangenehm bis penetrant aufdringlich. Sehr menschlich also suchen sie alle nach ihrem persönlichen, kleinen Stück Glück - werden enttäuscht oder bescheiden sich mit dem, was ihnen geboten wird. Sie alle wuseln unentwegt auf der Bühne umher. Ilka Meier schafft das passende Ambiente mit einem Hauch Fünfziger-Jahre-Touch, Séparée und beweglichen Elementen, die von dienstbaren Geistern ständig neu kombiniert werden. So ergeben sich scheinbar unendliche Möglichkeiten für Begegnungen, Dialoge oder nur den schnellen Sex im Wäscheschrank.
Max Claessen lässt seine Akteure erscheinen wie kleine Rädchen einer großen geschäftigen Maschinerie. Da bleibt kein Platz für große, tragische Helden. Die Bühnenfassung von Armin Petras unterstützt diesen Ansatz, wechselt sie doch bruchlos von erzählenden Passagen in Dialoge und gestattet so schnelle Szenenwechsel. Ein wenig in den Hintergrund treten gesellschaftliche Verhältnisse, Zwänge, in denen man sich bewegt und deren kausales Verhältnis zum Handeln der Figuren. Stetig Suchende werden uns gezeigt, mal sympathisch, mal unausstehlich.
Da ist die junge Kitty, die den scheinbar strahlenden Wronski liebt, ihn aber nicht bekommen kann. Ihren Frust darüber hämmert sich die herrliche Andrea Spicher in postpubertärer Wut auf der E-Gitarre von der Seele, um dann doch beim Provinzler Lewin ihren Ruhepol zu finden. Den gibt Louis Nitsche mit einem Berg von Selbstzweifeln behaftet, die fast körperlich erfahrbar werden und unglaublich gut nachzuvollziehen sind.
Dascha, Annas Schwägerin hadert mit ihrer Ehe und der Untreue ihres Gatten. Isa Weiß denkt kurz an Aufbegehren, findet sich aber - mit einer Spur Resignation - ab und sucht Trost im Glauben. Ilja Harjes, ihr Gatte, ist wohl das, was man einen verblühten Lebemann nennen würde, der in Geldsorgen steckt. Harjes trägt seinen ganzen Frust spürbar mit sich herum.
Daniel Fries ist Annas Ehemann Karenin, kaiserlicher Minister. Fries ist gar nicht so unnahbar und kühl, kommt eher sehr müde und verletzlich herüber und ist durchaus in seiner Beziehung kompromissbereit. Er bildet einen krassen Gegensatz zum Rittmeister Wronski, der ein Bild ist von einem Mann. Er scheint Anna bedingungslos zu begehren und stellt sich am Ende doch nur als egoman und wehleidig heraus. Jonas Riemer entlarvt den Charakterkern Wronskis unnachahmlich schonungslos.
Zwischen diesen beiden Männern steht Anna Karenina. Und Max Claessen findet unheimlich starke Bilder für ihre Stellung in dieser Dreiecksbeziehung: Ganz nah in deren Wesen dringt er vor, wenn Anna im Fieberwahn beide Männer umarmt und sie auffordert sich zu küssen. Von beiden will sie etwas für sich, auf keinen verzichten.
Stark der Schluss: Anna kommuniziert mit Wronski mittels einer Videoleinwand, manifestiert das Ende der Beziehung, das Ende ihres Lebens. Sandra Schreiber gelingt es da allein mit ihrer Mimik, uns zu fesseln. Wir hängen förmlich an ihren Lippen und sind überzeugt, dass die arme Frau recht haben muss. Auch wenn das gar nicht stimmen mag. Schreiber besitzt enorme Feinfühligkeit, um intensiv das Fragile, die Zerrissenheit der Anna Karenina herauszuarbeiten. Sie macht ganz klar: Der finale Selbstmord ist die einzig logische Konsequenz.
Max Claessen stellt mit Anna Karenina keinen großen Gesellschaftsroman auf die Bühne, sondern die ergreifende, packende Suche von Menschen nach ihrem „Sitz“ im Leben.