Stumm schleicht ein Muslim durch die Szene
Rums! Vom Schnürboden herab fällt eine ganze Inneneinrichtung. Dieser Müllberg bildet im Wesentlichen das Bühnenbild für die nächsten fünf Stunden. Für zweimal zwei, genau genommen, denn Johan Simons hat am Schauspielhaus Bochum gleich zwei Texte des französischen Enfant terrible und Literatur-Stars Michel Houellebecq auf den Spielplan gesetzt. Er lässt sie an Wochenenden als Aufführungs-Doppel mit einstündiger Pause bei Suppe und Wein, unter der Woche dagegen einzeln spielen. Um es gleich vorwegzunehmen: Wenn Sie genügend Sitzfleisch haben, sollten Sie sich für den Doppelabend entscheiden, denn Plattform (erschienen 2001, in deutscher Übersetzung 2002) und Unterwerfung (erschienen 2015) haben erstaunlich viele Bezüge zueinander, die Johan Simons nicht nur durch die Rollenbesetzung und das weitgehend gleiche Bühnenbild deutlich macht.
Nachdenklicher Islamist: In „Plattform“ wird das Selbstbewusstsein des Westens gesprengt
Auch Simons nimmt den Clou vorweg: das Ende des ersten Stücks nämlich. Bei dem „Rums“, mit dem der lange Abend effektvoll eröffnet wird, handelt es sich um einen Terroranschlag, den die männliche Hauptfigur Michel überlebt, während die weibliche, Michels Geliebte Valérie, nur noch tot aus den Trümmern geborgen wird. Tot ist auch der Bühnenbildner, und zwar schon seit dreieinhalb Jahren: Johan Simons recycelt in Bochum mit (von jeweils einer Ausnahme abgesehen) neuen Schauspielern seine alten Inszenierungen vom NT Gent, an dem Platform bereits im Jahre 2005 und Onderworpen im April 2017 herauskam. Bühnenbildner war der legendäre Bert Neumann, der seit Anfang des Jahrtausends bis zu seinem Tode im Jahre 2015 nahezu alle Bühnenbilder für Frank Castorf, René Pollesch und eben Johan Simons entwarf. Für Unterwerfung griff Simons noch einmal auf ein Werk des verstorbenen Neumann zurück und ergänzte es behutsam.
Die Bühne besteht nicht nur aus dem vom Himmel gefallenen Terroranschlags-Schrott, der vier Spielstunden lang auch die Verkommenheit der westlichen Gesellschaft versinnbildlicht, sondern auch aus ein paar senkrechten rechteckigen Flächen mit puffroten Glühbirnen, hinter denen sich schemenhaft die Gesichter zweier Thai Girls abzeichnen. Die mögen für den Club „Tropic Thai“ stehen, in dem Michel und Valérie einander kennengelernt haben, oder auch schon für den „Eldorador Aphrodite“, der am Ende des Romans (also am Anfang der Aufführung) in die Luft fliegt. Mit der Explosion im Aphrodite Club endet ein höchst erfolgversprechendes touristisches Konzept: Cluburlaub für Sextouristen (m/f). Idee: Michel, schwanzgesteuerter Beamter im französischen Kulturministerium. Umsetzung: Valérie, libidinöse Touristikmanagerin. Death and Destruction: Yassin, gut aussehender langhaariger Islamist. Der legt im glücklichsten Moment von Valérie und Michel (sprich: als sie ihn gerade oral befriedigt) den Sprengstoffgürtel um.
Was zuvor geschah, wird in einer langen Rückblende erzählt. Es beginnt ein Jahr vor dem Anschlag ebenfalls in Thailand. Valérie und Michel haben zufällig ihren Urlaub im selben Club gebucht, beide auf der Suche nach erotischen Abenteuern. Sie umkreisen einander, begehren einander wohl auch, doch Michel sucht seine Erleichterung bei thailändischen Prostituierten, und Valérie bleibt fürs Erste unberührt. Es ist ein schauspielerisches Fest, wie Karin Moog und Stefan Hunstein die schwierige Annäherung der beiden spielen; witzig gelingt die feine Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Geilheit. Wenn Moog den Mann anzumachen versucht, geschieht dies auf eine weichere, flirtendere, ironischere Art als bei dem raueren, direkteren Hunstein, dem selbst Zurückhaltung schnell zur Macho-Geste gerät. Der Valérie Moog mag Mann im Tropic Thai mit unverhohlenem Interesse hinterhergucken, während Michel, dem sexbesessenen Schluffi, der Moment der Selbsterkenntnis ganz gut ansteht: „Ich bin schon ziemlich verbraucht“, sagt er über sich. Genauso ist Stefan Hunstein zurechtgemacht: in etwas weit geratenen adidas-Klamotten, mit mäßiger Körperspannung und leicht fettigem Haar zeugt seine Erotik von vergangener Pracht, und doch kann man nachvollziehen, dass der schlanke, etwas verlotterte Bohemien auf das eine oder andere weibliche Wesen noch anziehend wirkt. Bei Hunstein kriegt man nicht aus dem Kopf, dass er wohl auch eine Art Alter Ego seines Autors Houellebecq darstellt.
Plattform stammt noch aus der Zeit, als Michel Houellebecq für die ausufernde Beschreibung von sexuellen Männerphantasien berüchtigt war. Johan Simons hat in seiner Inszenierung die krassesten Szenen des Romans gestrichen oder zumindest entschärft. Dennoch nehmen Michels obszöne Phantasien und die Beschreibung seiner sexuellen Begierden einen großen Raum ein. Weitere Kürzungen hätten hier vielleicht gutgetan; frappierend ist jedoch der Unterschied in der Wirkung dieser Passagen im Vergleich zur enervierenden Inszenierung von de Sades Philosophie im Boudoir (theater:pur-Besprechung hier) durch Herbert Fritsch am gleichen Haus: Werden bei Fritsch die Schilderungen der sich in immer ekelhaftere bzw. brutalere Abartigkeiten steigernden Sex-Exzesse irgendwann einfach nur zum Gähnen langweilig, bleibt bei Simons die Wiederholung stets ähnlicher Sex-Phantasien spannend: Fritsch vergisst in seiner Inszenierung, die politischen und philosophischen Intentionen des Marquis de Sade in den Blickpunkt zu rücken, während bei Simons / Houellebecq der politische, insbesondere der gesellschaftspolitische Hintergrund jederzeit spürbar ist.
Dafür sorgt schon die permanente Bühnenpräsenz des Terroristen Yassim, den Simons der Romanhandlung hinzugefügt hat. Lukas von der Lühe hat wenig Text, aber eine hohe schauspielerische Intensität. Meist geistert er nur stumm über die Bühne, aber wenn er im Wechsel mit Guy Clemens (Valéries Vorgesetztem Jean-Yves) die Umstände des Anschlags schildert, wenn er wie in Zeitlupe durch die Szenerie schleicht, ernsthaft und undurchsichtig, wenn er sachlich, unaufdringlich die Sicht des konservativen Muslims auf das Geschehen einbringt, wenn er bei sexuellen Ausschweifungen mit unbewegtem Gesicht zuschaut, wirkt er wie ein mahnender Zeigefinger in einer sich dem Konsum und der Libido ergebenden Gesellschaft. Zwei Sätze nur zur Situation in den französischen Banlieues, zu den Auseinandersetzungen im dem Umfeld von Valérie, Michel und Jean-Yves extrem entgegengesetzten sozialen und kulturellen Milieu - und der Zuschauer befindet sich mitten in den Polit-Diskussionen der Gegenwart. Yassin, der bei von der Lühe nicht eigentlich bedrohlich, sondern eher geheimnisvoll wirkt, kommt zu einer bitteren Analyse der westlichen Gesellschaft: „Gnadenlosigkeit ist für euch eine Tugend“, sagt er: „Mitmenschen sind für euch nur Konkurrenten statt Brüder und Schwestern.“ - Houellebecq wird manchmal eine übersteigerte Islamophobie vorgeworfen. Bei Simons kommt man um das Eingeständnis nicht herum, dass der Terrorist Yassin manch bittere Wahrheit ausspricht.
Mit viel Humor ist die muslimische Gegenposition zum ernsthaften Islamisten Yassin aufgemacht. Die marokkanische Studentin Aisha, die bei Michels Vater putzte und sich nach dessen gewaltsamem Tod (einer Art Ehrenmord!) an Michel heranzuschmeißen versucht, wird von dem arabischstämmigen Belgier Mourad Baaiz verkörpert - crossgender also. Vollbärtig, mit stark behaarten Beinen und im züchtigen Kleid sucht Baaiz permanent zärtlichen Körperkontakt. Aisha weiß, wie man sich im westlichen Kapitalismus aus dem Elend schläft, und scheint es doch zu genießen. Dass das sympathisch wirkt (und schauspielerisch eine Show ist), mag politisch im Westen nicht ganz korrekt sein. Im Nahen Osten ist es das ganz sicher nicht - Applaus für diese Idee.
Nach einigen Längen im Mittelteil geht Plattform mit zwei großartigen Monologen zu Ende. Beide, der Attentäter und der libidinöse westliche Schlot, haben „kein Verlangen mehr“. Der Islamist ist stolz: „Ich gehöre einer großen weltweiten Gemeinschaft an.“ - Der Bohemien aus dem Westen ist traumatisiert. Er schließt nicht nur mit seinem Leben ab, sondern auch mit dem System, in dem er lebt. Da muss man sich nicht wundern, wenn Houellebecq vierzehn Jahre später die Muslimbrüder in Frankreich an die Macht kommen lässt und selbst die intellektuelle Elite sich den neuen Machthabern ohne große Gegenwehr unterwirft.
Provokante Dystopie: Das Szenario der „Unterwerfung“ scheint näher als wir denken
Die machen es der alteingesessenen männerdominierten westlichen Elite in Houellebecqs Dystopie Unterwerfung allerdings auch leicht, sich der neuen Zeit anzupassen: Großzügigste Vorruhestandsregelungen sorgen dafür, dass Kritik der weniger Anpassungswilligen ausbleibt, während bereitwillige Konvertiten mit allerlei weltlichen Genüssen, attraktiv vergüteten Positionen und den Vorzügen der Vielehe (gern auch mit Minderjährigen) zur Mitarbeit am Aufbau des muslimischen Wohlfahrtsstaats gelockt werden. Dass die eine oder andere emanzipierte Dame unter diesen Umständen fluchtartig das Land verlässt, ist bei solchen Verlockungen hinzunehmen, zumal die muslimischen Machthaber im Hinblick auf ihre private Lebensführung alles andere als prüde sind.
Ein Muslimbruder als französischer Staatspräsident - das sei doch ein allzu weit hergeholtes Szenario, meinen Sie? Nicht, wenn Sie Houellebecq lesen: Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl gewinnt Marine Le Pen die relative Mehrheit. Die Parteien der linken und rechten Mitte sind zersplittert, und so einigt man sich, um den Sieg der identitären Bewegung zu verhindern, auf den Kandidaten der gemäßigten islamischen Minderheit. Der wird demokratisch gewählt und führt ganz elegant und ohne jedes Blutvergießen eine Art Staatsstreich durch. Liegt dieser Gedanke so fern? Le Pen liegt in den Umfragen zur Europawahl 2019 schon vorn, und wie man die Neubesetzung aller wichtigen Funktionen in Staat und Gesellschaft mit dem Präsidenten genehmen Amtsträgern forciert, wird uns auf der anderen Seite des Atlantiks gerade vorgeführt.
Leider fokussiert sich Johan Simons‘ Inszenierung kaum auf die Schilderung der politischen Vorgeschichte und auf die Pöstchenschacherei an der „alten“ Universität Sorbonne, an der der Protagonist François vor deren Umwandlung zur ersten muslimischen Universität Frankreichs als Literaturprofessor lehrte. So gerät die politische Brisanz des Stoffes, obwohl sie im Roman bei der Unterwerfung erheblich ausgeprägter ist als bei der platteren Plattform, ein wenig unter die Räder. Im Gegensatz zum Lese-Erlebnis erweist sich Unterwerfung in Bochum als das schwächere Stück - es gerät weniger unterhaltsam und humorvoll als Karin Beiers herausragende Inszenierung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (mit dem grandiosen Edgar Selge als Alleinunterhalter), und es hat weniger politische Prägnanz als Malte C. Lachmanns aus Dresden übernommene, gedanklich hervorragend durchdrungene Arbeit am Düsseldorfer Schauspielhaus (theater:pur-Besprechung hier). Johan Simons arbeitet mit kleinen Zeichen: Die Schauspieler ziehen sich auf offener Bühne halal um, und Karin Moog, die diesmal die hübsche jüdische Geliebte von François (erneut Stefan Hunstein) spielt, wird zum Kopftuchmädchen, bevor sie schließlich mit ihren Eltern nach Israel auswandert.
Es herrscht wieder Ruhe im Land; die Zeit der Anschläge auf Tankstellen in den Banlieues gehört der Vergangenheit an. Frauen scheiden aus dem Arbeitsleben aus; stattdessen wird die Kinderzulage erhöht: Wer die Kontrolle über die Kinder hat, hat die Kontrolle über die Gesellschaft - das wussten sozialistische und nationalsozialistische Diktaturen schon Mitte des 20. Jahrhunderts. Aber François‘ stets gleich jung bleibende Sexualpartnerinnen gehen stiften oder wenden sich anderen Würdenträgern zu, und eigentlich ist Sex das, was François am meisten interessiert. So gerät er, der zu Beginn noch wütend auf die Konversion des früher der identitären Bewegung nahestehenden Ex-Kollegen Steve (überzeugend: Guy Clemens) reagiert hatte, nach ausführlichen Gesprächen mit dem neuen Präsidenten der Sorbonne und einem Blick auf dessen bezaubernd unterwürfige, kaum dem Kindesalter entsprungene Ehefrauen ins Nachdenken.
Stefan Hunstein gibt einen selbstbezüglichen, manchmal gar hypochondrischen François. Er ist ein schlaffer Loser, ohne Plan, ohne Eigeninitiative und ohne Entscheidungskraft. Dennoch wirkt Hunstein weniger authentisch als in Plattform: zu aufgedreht, zu sehr unter Strom spielt er viele Passagen des Stücks. Auch Karin Moogs Myriam äußert ihre Verzweiflung manchmal reichlich expressiv, während sie in ihren stillen, nachdenklichen Szenen Empathie weckt. Der schauspielerische Hit in dieser Inszenierung ist jedoch der aus Belgien importierte Mourade Zeguendi als Professor Rediger, der neue Leiter der islamischen Universität Sorbonne. Wie Yassin in Plattform irrt er lange Zeit als rätselhaft stumme, undurchsichtige Gestalt über die Bühne und murmelt arabische Litaneien. Sein feines Lächeln ist undurchschaubar und macht unbehaglich. Fürsorglich, aber auch religionskonform hängt er der nackten Myriam sein Jackett um (das François ihr kurz darauf wieder abnimmt!) und trägt stattdessen François‘ adidas-Jacke, bietet, als er seine Sprache gefunden hat, Wein an und zieht sich eine Cola. Das sind die kleinen, unaufdringlichen Zeichen, die Johan Simons‘ Inszenierungen auszeichnen - und es sind die kleinen, geschickten, anbiedernden und doch klaren Gesten, mit denen der muslimische Welterneuerer um François wirbt.
Die Parallelen, die Rediger aufzuzeigen versucht zwischen der Unterwerfung der Frau unter den Mann („wie in der ‚Geschichte der O‘“) und der Unterwerfung des Menschen unter Gott, wie sie im Islam gefordert wird, mögen empörend sein. Doch neben den Aussichten auf das ungehinderte Ausleben seiner sexuellen Phantasien mit Frauen und Nebenfrauen sind es ausgerechnet die intellektuellen Argumente einer Frau, die François dem Gedanken an eine Konversion näherbringen. Seine alte Kollegin Marie-Françoise beklagt, in der westlichen Gesellschaft haben man „die Spiritualität verloren“. Europäische Werte wie „Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit“ seien nur noch leere Begriffe. Wenn Mercy Dorkas Otieno als Marie-Françoise erläutert, warum ihr der Islam Halt gibt, kommen wir ins Nachdenken - wie Yassin im vorhergehenden Stück scheint sie bittere Wahrheiten auszusprechen. Zu welcher Entscheidung das Nachdenken von François führen wird, bleibt im Konjunktivischen. Zum Nachdenken über die Angriffsflächen, die unsere heutige Kultur und Lebensweise bieten, geben Simons‘ Inszenierungen Anlass genug.