Werther als Pop-Theater
Ein schmuckloser Saal, mitten drin ein großer Stuhlkreis mit vier Durchgängen, darüber eine Lichterkette. Es wird dunkel, Trommelschläge ertönen zu dumpfer Musik, dann leuchtet die Lichterkette auf und drei junge Leute, zwei Männer und eine Frau, stürmen in die Arena, drehen mehrere Runden, plötzlich stürzt einer in der Mitte zu Boden. Ein Mann mit Seesack auf dem Buckel, in Fliegerjacke, roten Cordjeans und Strickmütze auf dem Kopf hält eine Pistole in der Hand: Es ist Werther (Eduard Lind).
Die beiden anderen wenden sich ans Publikum: „Unmut und Unlust hatten in Werthers Seele immer tiefer Wurzel geschlagen“, klagt die junge Frau in glitzernd-schwarzem, paillettenbesetzten supermini Jumpsuit. Das ist nicht Goethes brave Lotte in weißem Kleid mit rosa Schleifen, das ist eine adrette Lotte von heute (Davina Donaldson). „Werther hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er sich diese Welt zu verlassen sehnte“, bestätigt Albert, der „brave Mensch", mit dem Lotte zunächst „so gut als verlobt“, jetzt aber längst verheiratet ist. In dieser Inszenierung ist Albert allerdings keineswegs nur „ein braver, lieber Kerl, …dem man gut sein muss“, wie es im Roman heißt. Allerdings erfahren wir bei Goethe nur wenig über die Figur des Albert und dazu das meiste durch die eifersüchtigen Augen des liebeskranken Werther, der dem Rivalen „Sattheit“ und „Gleichgültigkeit“ attestiert. Da bleibt auf der Bühne viel Raum zur Eigeninterpretation und die nutzt Otto Moritz als verständnisvoller, temperamentvoller aber auch gekränkter Dritter voll aus.
Nach dem dramatischen Auftakt wendet Werther sich ans Publikum: „Ich war, was ich sein konnte. - Was ist die Welt ohne Liebe? - Jetzt will ich‘s erzählen!“
Es wäre vermutlich ein Einfaches, den Briefroman als großen Bühnen-Monolog zu inszenieren. Werther „erzählen“ zu lassen von der überwältigenden Liebe, von Sinnsuche und Verzweiflung, von seiner Verachtung der „bürgerlichen Engstirnigkeit“ und adligen „Rangsucht“. Zum Schluss brauchte es dann den allwissenden Erzähler (im Roman der Herausgeber), der vom tragischen Ende berichtet.
Weit davon entfernt ist die rasante, ideenreiche Düsseldorfer Inszenierung. Obwohl fast ausschließlich mit originalem Goethetext, gelingt es Rosonsky überzeugend, durch Schnitt und Textzuordnung ein temperamentvolles, nahezu dialogisches Liebesdrama zu montieren und mit minimalen Requisiten und stimmungsvoller musikalischer Begleitung auf die Bühne zu bringen. Es ist eine ganz junge, exzellente Truppe mit geringster Bühnenerfahrung, die es schafft, uns für eine Stunde zu verzaubern.
Temporeich wechseln die Szenen: Selbstbewusst tänzelnd, mit Zigarette in der Hand kokettiert Lotte mit dem liebeskranken Freund, blitzschnell wird ein transparentes Zelt mitten im sonst leeren Raum aufgeklappt, ein Rückzugsraum für ein paar schmusige Momente. Doch dann sind sie wieder zu dritt und feiern ausgelassen Werthers Geburtstag. Feiern gemeinsam Karaoke und singen von Liebe und Leid zu grellen Lichteffekten. Eine Eifersuchtsszene wird - vielleicht etwas albern - mit Wasserpistolen ausgetragen, doch dann folgen tiefernste Gespräche über Tod und Ewigkeit beim nächtlichen Spaziergang. Dazwischen immer wieder die besorgte Base, die nicht aufhört, aus einem Wolfskopf heraus zu mahnen: „Nehmen Sie sich in Acht, dass Sie sich nicht verlieben!“ Vergeblich.
Obwohl so rasant gekürzt, kommt alles vor: Der Knecht, der seinen Nebenbuhler erschlug; der Kanarienvogel, der Lottes Kuss zu Werther trägt, schnurrig gegeben von Otto Moritz (eindeutig zu erkennen als Albert-Darsteller) mit grellgelber Federboa. Die Hochzeit von Lotte und Albert, zu der Werther nicht eingeladen wurde. Seine Wut und Verzweiflung darüber. Die Pistole, die sich Werther bei Albert auslieh. Das alles spielt sich in der Raummitte ab: ohne Mikroports sprechen die drei Schauspieler wunderbar verständlich, spielen virtuos in alle Richtungen und beziehen uns Zuschauer immer wieder als Ansprechpartner ins Geschehen ein.
Werthers Abschiedsbrief lesen Lotte und Werther im Wechsel zu leiser Musik. Ergreifend. Dann fällt der Schuss.