Der Sandmann im Dortmund, Schauspielhaus

Horror aus dem Schrank

Der Schrank, ein schönes, schweres Möbel in dunkler Färbung und mit leichten Verzierungen, birgt den blanken Horror. Was Nathanael, der blasse, nervöse, alsbald dem Wahn verfallende junge „Held“ aus E.T.A. Hoffmanns Schauerstück Der Sandmann hinter den wuchtigen Holztüren erblickt, ist wahrlich nichts für sensible Nerven. Alchemistische Experimente mit einem geheimnisvollen Widerling namens Coppelius bringen dem Vater des Jungen den Tod. Zuvor noch musste das Kind sehen, wie die beiden Erwachsenen an einem roboterähnlichen Homunkulus herumbasteln, dem eigentlich nur noch ein paar Augen fehlen. Und wie sich der wüste Finsterling auf Nathanael stürzt, um ihm seine Sehorgane aus dem Kopf zu reißen. Dem ist nun klar, dass dieser Coppelius nur der Sandmann sein kann, jene böse Märchenfigur, die den Kindern angeblich die Augen stiehlt, um sie an den eigenen Nachwuchs zu verfüttern.

Der Schrank, Mobiliar des Grauens, bildet den zentralen Blickfang auf der Bühne des Dortmunder Kinder- und Jugendtheaters (KJT), in der Ausstattung Oliver Kosteckas. Hier wird Nathanael zwar zum ersten Mal die faszinierend kalte, schöne Olimpia erblicken, doch muss er auch mit ansehen, dass sich die Angebetete letzthin als schnöder Automat entpuppt. Schließlich: Hinter diesen Holztüren wird der Junge blutüberströmt sein Leben aushauchen, nach einem panischen Sprung aus großer Höhe. Seine Dämonen, die dunklen Mächte, haben gesiegt, die idyllische Gegenwelt, symbolisiert durch die fürsorgliche Mutter („Es war alles nur ein Traum. Es wird alles gut.“) und seine lebenslustige, vernunftbegabte Verlobte Clara, kann den Rasenden nicht besänftigen.

Andreas Gruhn, Chef des KJT, inszeniert Hoffmanns Ausflug in die Gefilde der schwarzen Romantik mit gehörigem Gruselfaktor. Die heimelige Familienwelt und die Abgründe des Menschlichen stehen in klarem Kontrast zueinander. Durch sinnfällige Videoprojektion zaubert Gruhn Murnaus Schreckensatmosphäre ebenso herbei wie psychedelische Wirrnis oder blanken Horror in Form blutiger Augäpfel. Andererseits wird des Studenten Nathanaels Reise aus der italienischen Universitätsstadt über die Alpen ins heimatliche Kleinstädtchen mit hübschen Landschaftsbildern illustriert. Die emotionalen Wechselbäder dieses Helden werden indes vor allem durch die Auswahl der Musik veranschaulicht. Wo andere gerne mal ihren Plattenschrank wahllos plündern, setzt diese Produktion auf gezielte Unterstützung durch Klang, Geräusch oder Harmonie.

Da stehen sanfte Klavierakkorde neben bedrohlich elektronischem Wabern, nervöse rhythmische Ostinati steigern sich zur apokalyptisch anmutenden Kakophonie. Schon der Beginn, mit Roy Orbisons Schlager „In Dreams“, ist verstörend. Zwar ist hier noch vom netten Sandmann die Rede, der den Menschen schöne Träume bringt, etwa den von der großen Liebe. Doch wenn der Schlafende erwacht, muss er erkennen, dass seine Welt die eines Einsamen ist. So wie Nathanael letzthin allein ist mit seinen Ängsten und Dämonen. Der Sandmann ist ein bonbonfarbener Clown, heißt es bei Orbison, und genau solch ein Wesen stürzt sich aus dem Schrank des Schreckens; unzweifelhaft ist er der unheimliche Wetterglashändler Coppola/der infame Alchemist Coppelius/der Sandmann.

Andreas Ksienzyk gibt diese dunkle Gestalt als verschlagenen Zyniker, als brutales Wesen wie als windigen Verkäufer. Mit Nathanaels sanftmütiger Mutter (Bettina Zobel) oder der lebensfrohen Clara (Ann-Kathrin Hinz) hat der Widerling nicht das Geringste zu tun. Zwischen diesen beiden Welten hin- und hergerissen spielt Thorsten Schmidt virtuos den haltlosen Nathanael, als wilden poetischen Schwärmer, oder den von nackter Angst Gepeinigten. Ebenso gekonnt ist die maschinenhafte Anmut, die Bianka Lammert dem seltsamen Geschöpf namens Olimpia verleiht.

So entpuppt sich Der Sandmann in Dortmund als ziemlich spannende Albtraumszenerie inmitten einer heilen (Familien)-Welt, nicht zuletzt als schlüssiges Gesamtkunstwerk aus Musik, Bild und Spiel. Das üppigen Beifall bekommt.