Dialektik und Humor
Ein Werbe-Poster für die Olympischen Spiele in Helsinki scheint die Handlung im Jahre 1952 zu verankern. Dabei stammen Bertolt Brechts bereits Ende der 1930er Jahre begonnenen Flüchtlingsgespräche aus dem Jahre 1940. Der Autor überarbeitete sie immer wieder und beendete die Arbeit erst während seines späteren Aufenthaltes in den USA, so dass die finale Version erst im Jahre 1956 veröffentlicht wurde. Die Handlung aber spielt in der Zeit des Nationalsozialismus. Der Physiker Ziffel und der Arbeiter Kalle treffen sich zunächst zufällig, später nach Verabredung in einem finnischen Bahnhofsrestaurant. Beide teilen mit ihrem Autor das gleiche Schicksal: Sie befinden sich auf der Flucht vor dem Hitler-Regime.
Im Bühnenbild des Rottstr 5 Theaters in Bochum wirkt das Bahnhofsrestaurant eher wie ein Biergarten. Linus Ebner als Ziffel und Pascal Riedel als Kalle sitzen weit entfernt von einander an zwei Tischen und verbrennen Papiere. Nicht alles, was man auf der Flucht mitnimmt, um über die Grenze zu kommen, ist noch von Nutzen, wenn man in der Emigration angekommen ist; manches, was unter dem alten Regime, vor dem Kalle und Ziffel geflüchtet sind, echt und wichtig war, ist in der neuen, freiheitlicheren Umgebung falsch und gefährlich. Der Pass aber muss echt sein: „Der Pass“, so zitieren Ebner und Riedel den vielleicht bekanntesten Satz aus den Flüchtlingsgesprächen, „ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“
Ziffel und Kalle, die beiden Flüchtlinge mit so unterschiedlicher Klassenzugehörigkeit, freunden sich miteinander an. Ziffel, obwohl bei Linus Ebner noch jung wirkend, schreibt seine Memoiren, und er braucht Kalle als Zuhörer, zunehmend aber auch als kritisch reflektierenden Sparringspartner für seine Gedanken. Die Literaturkritik interpretiert ihren Dialog als eine Art Selbstgespräch des Autors aus verschiedenen sozialen Perspektiven. Kalle, bei Pascal Riedel zunächst nicht nur rhetorisch, sondern in seinen zerschlissenen Klamotten auch optisch der Underdog, versucht, den gut gekleideten Intellektuellen Ziffel auf den Sozialismus einzuschwören. Mehr und mehr nähern sich die Auffassungen der beiden Diskutanten einander an. Regisseurin Mizgin Bilmen, die sich bereits während ihres Studiums an der Folkwang Universität der Künste mit Brechts Flüchtlingsgesprächen befasst hatte, nutzt diese Konstellation, um einige der funkelnden Brecht’schen Metaphern und Aphorismen zum Klingen zu bringen, von denen das Stück nur so wimmelt. Manchmal ist das schon ein bisschen reichlich: Die Flüchtlingsgespräche sind eigentlich ein Lesedrama; die Dialoge oft wenig filigran. Auf der Bühne laufen sie wie manche von Brechts Texten Gefahr, ein wenig papieren zu wirken. Doch die feinen, nachvollziehbaren Beispiele von Brecht’scher Dialektik, in Bochum nicht ohne Humor dargeboten, vermögen in Bilmens Inszenierung zu fesseln. Nicht umsonst heißt es im Text: „Die schärfsten Dialektiker sind die Flüchtlinge… Für die Widersprüche haben sie ein feines Auge.“
Widersprüche sind schließlich meist der Grund, warum die Migranten die Flucht ergriffen haben: Widersprüche, in die sich die sich selbst meist als „demokratisch“ bezeichnenden Diktaturen verwickeln, ebenso wie der eigene Widerspruchsgeist, der das Leben für die gefährlich gemacht hat. Da gibt es dann feinsinnige Metaphern: Ziffel spricht über die Ordnung und erkennt die Vorteile der Schlamperei: „Wo nichts am rechten Platz liegt, ist Unordnung. Aber wo nichts liegt, ist Ordnung“, fasst Kalle zusammen und trifft das Wesen von Diktaturen im Kern, muss sich aber, als er Ziffel später zum Kommunismus zu bekehren versucht, vorhalten lassen: „Im Kommunismus werden Sie wieder nichts zu essen haben. Aber es wird wieder Ordnung herrschen.“ Demokratie bedeute die Volksherrschaft, behauptet Ziffel, der Kommunismus aber sei die Herrschaft über das Volk, nicht die Herrschaft des Volkes.
Doch Brecht wäre nicht Brecht, wenn er die Sehnsucht nach dem Sozialismus und in seiner endgültigen Konsequenz nach dem Kommunismus aufgeben würde. Mehr und mehr gewinnt der Arbeiter Kalle an Selbstbewusstsein, und sein Outfit wird weniger ärmlich. Wie es sich für Brecht gehört, gelingt der Arbeiterklasse die Emanzipation. Es gibt viel zu tun, packen wir’s an, heißt die Moral von der Geschicht‘. Das Ergebnis, das beide in Brechts Text herbeiwünschen, wirkt aus heutiger Sicht ein wenig merkwürdig: Dass in einem idealen Staat nur ein Minimum von Intelligenz, Mut, Vaterlandsliebe, Freiheitsdrang und Ehrgefühl erforderlich sein sollte, um ein zufriedenes Leben führen zu können, erscheint nicht nur ein wenig unambitioniert. Solche Mitbürgerinnen und Mitläufer sind vermutlich besonders leicht verführbar durch radikale Ideologen. Und, Dialektik, ik hör‘ dir trapsen, Kalle erkennt, dass es genau die o. a. Eigenschaften sind, die für die Erreichung des Zustands eines gerechten Sozialismus erforderlich sind: Tapferkeit, Freiheitsdurst, Selbstlosigkeit und Egoismus.
Doch Mizgin Bilmen beherzigt ein anderes Bonmot aus Brechts Text: „In einem Land zu leben, in dem es keinen Humor gibt, ist schrecklich. In einem Land zu leben, in dem man Humor braucht, ist unerträglich.“ Immer wieder gelingt es Bilmen, auch den manchmal arg versteckten Humor in Brechts Vorlage zum Vorschein zu bringen. Dabei kann sie sich auf ihr Schauspieler-Team verlassen, insbesondere auf den großartigen Linus Ebner als Ziffel. Seine Darstellung des Intellektuellen changiert zwischen Arroganz und Selbstreflexion, zwischen Ironie und dem Selbstbewusstsein des Bildungsbürgers, zwischen Witz und Ernsthaftigkeit. Bilmen gibt Ebner die Gelegenheit zu einem eindrucksvollen Solo, in dem er Ausschnitte aus Ziffels „Memoiren“ vorträgt, beginnend mit einer bewusst überambitioniert vorgetragenen Reflexion über die Plötzlichkeit historischer Umschwünge, sich fortsetzend mit einem rasanten Wortkonzert am Mikrofon, einem magischen, mit Hall unterlegten Wortschwall in bester Poetry Slam Manier, hin zu einer kruden Mischung aus Faust-Zitaten, Nazi-Parolen und einem Versuch über den Biohonig. Da guckt der Kalle ganz verstört, wenngleich nicht ohne Faszination, und mampft ein paar Krümel aus der Brötchentüte, bevor er ganz trocken mit Brechts Original-Text fortfährt: „Hübsch, wie es sich so auf den Krieg zubewegt…“.
Das ist ein früher Höhepunkt in einer spannenden Inszenierung, in der es ein selten gespieltes Werk des großen BB wiederzuentdecken gibt. Wer über seine dramatischen Schwächen lästert, findet es hier rehabilitiert.