Das männliche und das weibliche Prinzip
Ooh, he did it again. Schon mehrfach hat Regisseur Dusan David Parízek Stücke aus dem Dramen-Kanon vergangener Jahrhunderte mit Texten von Elfriede Jelinek verbunden: Goethes Faust und Jelineks Sekundärdrama FaustIn and Out in der Spielzeit 2011/12 am Schauspielhaus Zürich zum Beispiel (siehe hier) oder eineinhalb Jahre später Ibsens Nora mit dem älteren Jelinek-Drama Was geschah, als Nora ihren Mann verlassen hatte sowie dem eigens für die Aufführung geschriebenen Jelinek-Text Nach Nora am Düsseldorfer Schauspielhaus (siehe hier). In beiden Fällen wurden die jeweiligen Texte mehr oder weniger brav nacheinander gespielt. Jetzt zeigt das Schauspielhaus Bochum Iphigenie - nicht die humanistische, ein bisschen langweilige von Goethe, sondern die, wenn man es recht betrachtet, empörendere von Euripides, in der sich die Tochter des Kriegsherrn Agamemnon am Ende unter kriegslüsternem Hallo freiwillig opfert: Iphigenie in Aulis also. Diesmal denkt Parízek in seiner eigenen Textfassung das Drama des Euripides und Elfriede Jelineks Ein Sportstück zusammen. Und diesmal macht er daraus eine echte Montage.
Die von Parízek verwendeten Sportstück-Passagen wirken wie ein Kommentar zur irrwitzigen Handlung der Iphigenie-Tragödie. Da Kommentare in der griechischen Tragödie nun mal eine Sache des Chors sind, werden die Jelinek-Sätze vom „Chor junger Frauen aus Chalkis“ gesprochen. Bei Euripides begeistert sich der Chor für den bevorstehenden Krieg. Die notorische Sportverächterin Jelinek dagegen stellt in ihrer Textfläche kritisch auf die Bedeutung des Sports als eine Männerkörper stählende Vorbereitung für den Kriegseinsatz ab, was zwar in Jelineks Österreich und Merkels Deutschland ein wenig absurd erscheint, aber im alten Griechenland und in den zwölf Jahren des tausendjährigen Deutschen Reichs den Tatsachen entsprach. Jelinek stellt die Sport- und Kriegsbegeisterung mit beißender Ironie dar und zeigt die Zusammenhänge zwischen dem ihrer Auffassung nach auf dem Feld der Ehre und dem Feld des Mannschaftssports gleichermaßen bestehenden Gewaltpotential auf. Mit großem Furor und Lust am Kalauer greift sie den Sport nicht minder an als den Krieg. So lassen sich die Sportstück-Kommentare überraschenderweise tatsächlich wie mal kritische, mal befeuernde Stellungnahmen des Chors zu Agamemnons bevorstehendem Kriegszug lesen.
Der an diesem Abend schauspielerische Glanzlichter setzende Bernd Rademacher schlägt humorvolle Funken aus dem Jelinek-Text. Rademacher gibt als Polyhymnia den Chorführer. Die wahre Polyhymnia, die Muse der Hymnendichtung, dürfte Freude an Elfriede und ihrem Interpreten haben, denn die gelassene Ironie und der milde Spott, mit denen Rademacher sogar die Regieanweisungen der Autorin vorträgt, sind ein neuer Ton in der bisherigen Jelinek-Interpretation - und sie bilden einen Kontrast zu den maskulinen, manchmal machohaften Erörterungen des Krieges. Ohnehin sind die Geschlechtergrenzen aufgehoben: Nahezu alle Figuren sind genderverkehrt besetzt. Auch die beiden anderen Chordamen, die Muse der Liebeslyrik und des Tanzes Erato sowie die Muse der epischen Dichtung, Wissenschaft und Philosophie Kalliope, sind Männer. Bernd Rademacher, Konstantin Bühler und Lukas von der Lühe wurden von Kamila Polivková in altmodische Frauen-Röcke gesteckt. Sie karikieren manchmal etwas dümmliche Weiber-Klischees. Das könnte albern wirken, ist aber witzig und keineswegs Verrat an ihren Rollen, denn die Darsteller finden eine erstaunliche Balance zwischen Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung: Man sieht ihnen gerne zu und findet sie irgendwie cool. - Agamemnon und Klytaimnestra, das durchaus unterschiedliche Interessen verfolgende Elternpaar Iphigenies, wird in Personalunion durch Jele Brückner verkörpert, die in Anzug und Plateausohlen faszinierend androgyn wirkt und beiden Figuren ein wenig von ihrer Härte nimmt. Später wird Bernd Rademacher die Rolle Klytaimnestras übernehmen. Svetlana Belesova teilt sich in die Rolle des Menelaos und seiner Nichte Iphigenie, und die eher zarte Anne Rietmeijer spricht als etwas dümmlicher Kraftprotz Achill unverhohlen über die Doping-Praxis des sportlichen Heroen: „Geschluckt hab‘ ich genug“, weiß Achill. Nur davon, dass man Iphigenie unter dem Vorwand nach Aulis gelockt hat, dass sie Achilleus heiraten soll, weiß er nix.
„Dass auch Körper gebildet sein können, habe ich nicht gewusst“, spottet Jelinek zu solchen Bildern. Rietmeijer mit Muskelanzug und Plateausohlen unter der adidas-Trainingskleidung - das ist wieder die humoreske Ebene der Inszenierung. Aber Parízek hat alles andere als einen Schenkelklopfer inszeniert: Letztlich ist sein Besetzungskonzept nicht genderverkehrt, sondern genderneutral. Und so wirkt es fast wie eine wissenschaftliche Untersuchung: Einerseits fahren die Frauen klischeehaft auf starke Männer mit Muskeln und einem eher physisch begründeten Heldenpotential ab. So erklärt sich auch die zunehmende Begeisterung der Chordamen und der Iphigenie für den hoffentlich heroischen Krieg. Infrage gestellt wird beides durch die weibliche Besetzung der Kriegshelden oder durch einfache Bilder: „Das Töten ist ein männlicher Bewerb, oder?“, fragt Chorfräulein Lukas von der Lühe und schwingt eine steinzeitliche Keule - als Waffe oder als Sportgerät. Was ist männlich, was ist weiblich - und ist die klare Unterscheidung zwischen den Geschlechterrollen steinzeitlich, scheint die Inszenierung zu fragen.
Andererseits nähern sich Klytaimnestra und Agamemnon bei der beide Rollen androgyn verkörpernden Jele Brückner im Hinblick auf ihr Auftreten einander an. Ja, Klytaimnestra kämpft für die Lebenschance ihrer Tochter, Agamemnon setzt sie aufs Spiel, setzt das Leben der Tochter ein, um rechtzeitig in den Krieg ziehen zu können. Da prallen das männliche und das weibliche Prinzip radikal aufeinander. Doch Parízeks Inszenierung arbeitet auch den inneren Konflikt Agamemnons deutlich heraus: Den Widerspruch zwischen Machtstreben und Menschlichkeit, zwischen der Verantwortung für den Staat einerseits und für das Leben des Einzelnen, für Individualinteressen andererseits. Und, ja, den Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und Tochterliebe.
Noch einmal siegt das alte Rollenmuster: Iphigenie, die Frau, opfert sich für abstruse männliche Ideale. Agamemnon dagegen handelt nach dem alten, heute vielleicht überkommenen Prinzip der Machterhaltung und der Rücksichtslosigkeit. Er entscheidet sich für seine Macht, für das Vaterland, für Ruhm und Ehre. Seine Begründung klingt schal: „Nicht darf es geschehen, dass von Barbaren wir beraubt werden unserer Ehefrauen.“ Man muss sich einmal vergegenwärtigen, worum es in dem anzuzettelnden Krieg geht: Da wird eine hehre, humanistisch und altruistisch denkende Tochter geopfert - und begründet wird das mit der Heimholung einer schönen Frau, von der niemand weiß, ob sie, Helena, nicht sogar freiwillig stiften ging. Dass Menelaos, der Gatte der von den Trojanern entführten Helena und Bruder Agamemnons, und Iphigenie in Bochum von der gleichen Schauspielerin (Svetlana Belesova) gespielt werden, mag die Absurdität des Krieges und des damit verbundenen Mädchenopfers hervorheben. Und dass eigentlich andere Motive dem Angriffskrieg zugrunde liegen, scheint offensichtlich.
„Mars macht mobil“, kalauert die Aufführung noch einmal, doch ist uns nicht nach Lachen zumute. Aus den Musen von Chalkis werden Schläger, Skinheads und Hooligans, die in allen Dialekten der deutschen Sprache wüten. Gewalt bricht sich Bahn - aus Kriegslüsternheit (ok), aus sportlichem Ehrgeiz oder Hooliganismus (naja, da übertreibt Frau Jelinek vielleicht), aus Heldenverehrung (gehört in Westeuropa hoffentlich auf den Müll der Geschichte). Achill erscheint mit der Nebelmaschine ganz oben im Rang und wird reflektiert von der großen Spiegelwand, zu der sich das Bühnenbild verwandelt hat. Einen Moment denken wir an die Erstürmung des Moskauer Dubrowka-Musicaltheaters durch tschetschenische Terroristen. Auch im Theater lauert Gewalt.