Und die Fantasie hat doch recht
„Ich will, dass du dein früheres Leben ganz und gar verlässt,… dass du dein Zuhause, deine Kleider, deine Freunde, deine Gewohnheiten, deine Gedanken aufgibst“ - mit dieser Forderung an die Theaterfrau Emilie Ekdahl zwingt der Bischof Edvard Vergérus seine ihm soeben angetraute zweite Ehefrau und ihre Kinder aus erster Ehe Fanny, Alexander und Amanda in das neue Leben in seinem freudlosen Bischofshaus.
Doch der Bischof der Düsseldorfer Inszenierung spricht diese feindseligen Worte mit so freundlicher Gelassenheit, dass man sein Verständnis für die Theaterfamilie so gar nicht geheuchelt, nicht als übergriffige Maskerade, sondern als wohlmeinendes Willkommen verstehen könnte. Und in der Tat scheint sich die junge Frau dem gönnerhaftem Gutmenschentum des neuen Gatten zu unterwerfen und „wie neugeboren“ in die Bischofswelt überzuwechseln. Unbegreiflich jedoch, dass die Biederkeit des Bischofs in dieser Aufführung offenbar gar keine Verstellung, nicht Attitüde, sondern der Grundton seiner Figur bleibt. Selbst in der bedrohlichsten Szene, wenn er seine grausige Macht über die schwangere Emilie ausspielt, ihr und dem ungeborenen Kind Gefangenschaft und Tod androht, steht er Tomaten essend da und versucht sie anschließend zu vergewaltigen. Das ist nicht der in seiner Bigotterie und Strenge erstarrte, von einem furchterregenden Gotteswahn besessene Antipode der lebensdrallen Theaterwelt, sondern ein unappetitlicher Egomane - oder, wie der zehnjährige Alexander ihn tituliert: ein Schwein.
Während es dem Schauspieler Christian Erdmann nicht gelingt, die Doppelbödigkeit, das grausige Unterbewusste seiner Figur auszustellen, schafft es das übrige Ensemble rasant, die Ambivalenz der zwei widerstreitenden, zutiefst unterschiedlichen Welten - sei es als Tragödie (mit versöhnlichem Ausgang), als Satyrspiel oder Groteske - auf die Bühne zu bringen. Wir sehen scharf geschnittene Figuren - allen voran die unglaubliche (zweiunddreißigjährige) Lea Ruckpaul in der Rolle des Jungen Alexander, der zweifellos die Hauptfigur des Geschehens ist, und der in seinem verzweifelten Kampf um sein Recht auf Fantasie, Liebe und Anerkennung unser aller Herzen und Anteilnahme gewinnt.
Großartig, wie Regisseur und Bühnenbildner die Möglichkeiten der großen Bühne im (fast fertig-) renovierten Schauspielhaus nutzen: da steht zu Beginn eine raumgreifende weißliche Hauswand quer im Bühnenraum, die sich wie selbstverständlich als Projektionsfläche der bunten Bilder aus der Vergangenheit und kindlicher Fantasien anbietet, und die dann, um 45 Grad gedreht, den graugestreiften, schmucklosen Bischofssaal freigibt.
In der Trostlosigkeit dieser Halle wird sich das Martyrium der titelgebenden Theaterkinder Fanny, Alexander und Amanda abspielen, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. (Amanda kommt im Film nicht vor, weil das gecastete Kind keine Unterrichtsbefreiung erhielt.) Da verbringen sie, während die Mutter unterwegs ist, fünf Tage im Kinderzimmer oder gar in der Dachkammer eingeschlossen, kämpfen auf ihrem Matratzenlager gegen Alpträume und Dämonen, werden nur sporadisch mit Essen versorgt von zwei bleichen, gefühllos funktionierenden Vergérus-Frauen in schmucklosen, bodenlangen schwarzen Kleidern (unheimlich: Cathleen Baumann und Claudia Hübbecker). Und wenn sie doch einmal am Familientisch essen dürfen, wirkt das Arrangement wie eine Parodie auf Leonardo da Vincis Abendmahl, später gibt’s dann auch noch eine angedeutete Kreuzigung. Die Vergehen der Kinder sind ihre Träume und Fantasien, in die sie sich flüchten, und die im Hause Vergérus als „Lügen“ gebrandmarkt und durch Strafen ausgetrieben werden sollen. Da gibt’s dann auch mal Stockschläge bis das Blut spritzt, emotionslos ausgeteilt vom Bischof persönlich. Eine eindrucksvolle Verbildlichung des zentralen Themas: dem Kampf von Pflicht, Zwang, Askese gegen Fantasie, Emotion, Mysterium. „Alexander begreift nicht, dass sein Stiefvater ein lebensgefährlicher Gegner ist, der nur darauf wartet, ihn zu vernichten“, klagt Emilie, eine starke Frau, die keinen Ausweg sieht (kraftvoll: Minna Wündrich).
Über dem grausamen Alltag schwebt farbenfroh auf der Videowand die Erinnerung an das geliebte turbulente Theaterleben, an Feste und Feiern in der Familie Ekdahl, Rückblenden und Träume aus einer anderen Welt, die nur in wenigen Szenen in der Bühnenwirklichkeit erscheint: so in einigen frivolen Bettszenen des Ekdahl-Sohnes Gustav Adolf (Thiemo Schwarz), der nach Emilies Weggang mehr schlecht als recht das Theater leitet. Dann ist da noch der leibhaftig im Bühnengeschehen umherschleichende Geist des verstorbenen Oscar Ekdahl (Thomas Wittmann), Vater der Kinder und erster Ehemann von Emilie, der während einer Hamlet-Aufführung starb und jetzt in einer schlaffen Vater-Geist-Rolle tragisch-komisch weiterwirkt: eine Hommage Ingmar Bergmans an den verehrten William Shakespeare. Außerdem spuken da die toten Kinder des Bischofs aus erster Ehe herum (sie ertranken gemeinsam mit ihrer Mutter, was Alexander zu bösen Fantasien anregt), als Handpuppen wunderbar geführt von Johanna Kolberg, die auch als Fanny überzeugt.
Nachdem Filip Landahl, ein alter Freund der Familie (herrlich gegeben vom Urgestein des Düsseldorfer Schauspielhauses Wolfgang Reinbacher) die Kinder durch eine List befreit, hebt sich der Bühnenboden und die Kinder erscheinen darunter gleichsam eingebunkert. Alexander wird auch hier noch von seinen Dämonen verfolgt und während ihn Mordpläne umschwirren und sein Alter Ego ihm zuraunt: „Du trägst den Tod eines Menschen mit dir herum…“, wird oben durch einen Deus ex machina alles geklärt: der Bischof verbrennt, alle sind erlöst. Den Sieg des Irrealen über die Realität werden die Frauen mit Strindbergs Traumspiel auf ihrer Theaterbühne feiern. Mit dem Zitat daraus „Auf bedeutungslosem Grund der Wirklichkeit spinnt die Einbildung und webt ihre Muster“, endet das Stück.
Fanny und Alexander gilt als Bergmans autobiographisches Vermächtnis: eine Hommage an das Theater und seine großen Autoren, Shakespeare und Strindberg, E. T. A. Hoffmann und Dickens, und zugleich ein Rückblick auf die eigene Kindheit in der Enge des elterlichen Pfarrhauses. Die im informativen Programmheft abgedruckten Auszüge aus seiner Autobiographie „Laterna Magica“ lesen sich wie Gedanken zu Fanny und Alexander.
Das Premierenpublikum feierte alle Beteiligten mit begeistertem Applaus und Standing Ovations.