Wir Menschen sind gefrorene Gottgedanken*
Central im Bühnenraumhängt eine große Guckkastenbühne, kalkweiß mit neun hohen Stufen bis fast an die Oberkante, vorne ein quadratischer Kasten, der später als Brunnen dient. Rund herum im Bühnenraum einige einfache Bänke wie aus Beton gegossen und ein Stehtischchen. Mitten im weißen Würfel schwankt an unsichtbarem Faden ein überdimensionales, biedermeierliches Festkleid, gleichsam ein museales Exponat, das aus der Bühne ein White Cube macht - und in der Tat erscheinen gutgelaunte „Museumsbesucher“, schick in Hosenanzug und High Heels oder in sportlichem Trench, eine hält ein Heft in der Hand, wohl ein Katalog, aus dem sie vorliest. Dann entdecken die Besucher*innen Knöpfe und eine Lautsprecheranlage am Vitrinen-Rahmen, sie greifen damit von außen ein ins museale Geschehen: verändern das kalt-blaue Licht in warmes Rot und Gelb, sprechen einen Text: „...mein Hochzeitskleid, es ist nur noch mein Leichenkleid“. Das Ganze wird untermalt von leiser E-Cello-Musik, die den ganzen Abend live vom Kasten-Dach herunter gespielt werden wird (Musik: Tobias Vethake).
Dann steigt Theaternebel auf und als er sich lichtet, erscheint auf der obersten Stufe eine Frauengestalt. Eben noch war sie die Lady unter den Zuschauern, jetzt schreitet sie puppenhaft starr die Stufen herab in eben jener vordem ausgestellten Biedermeier-Robe, wiederholt den Text der Besucherin: „Mein Hochzeitskleid, es ist nur noch mein Leichenkleid“. Wir sind angekommen in Hebbels Tragödie des prüden Anstands, der seine Mitspieler in den Tod treiben wird. Noch schauen die anderen zu, singen von außen, aus der Heute-Welt, in die Sprechanlage: „Listig der Tod mich umschlang…“, Zeilen aus dem Gedicht An den Tod. (Eine Totenklage, die Hebbel nach dem Tod seines kleinen Sohnes Max schrieb, der während der Arbeit an Maria Magdalena starb.)
Dann verschwindet Einer nach dem Anderen von der Vorderbühne und erscheint - völlig aus der Zeit gefallen - als Kunstfigur im Guckkasten. Allen voran die ergreifende Gestalt der Hauptfigur, die in der Ausweglosigkeit ihres Schmerzes „gefrorene“ Klara. Zwischen biedermeierlicher Empfindsamkeit und tragischem „Weiberschicksal“ droht sie in den Konventionen einer gnadenlosen gesellschaftlichen Beschränkung zu ersticken. In ihrem zur Unbeweglichkeit zwingenden, glockenhaften Krinolinenkleid, mit Mittelscheitel und strengem Nackenknoten gibt Cennet Rüya Voss eine anrührende und zugleich starke Opfer-Figur. Sie ist keine Rebellin gegen erduldetes Unrecht, falsche Gottesfurcht und männliche Grausamkeit, sie überhöht vielmehr das Teuflische zur Tragik. Um die Vorwürfe des Verlobten zu entkräften, gibt sie sich ihm hin; um den Vater vor „Schande“ zu bewahren, seine „Ehre“ zu retten, stürzt sie sich in den Brunnen, dabei einen Unfall vortäuschend. Sie tut das für sie Richtige: das vermeintlich Richtige für eine Frau in ihrer Zeit.
Nicht alle Figuren sind von gleicher Intensität. So gibt Jan Maak mit seinem unruhigen Spiel, mit grotesken Wutanfällen und gelegentlicher Wehleidigkeit die übermächtige Vaterfigur des Meister Anton nicht eben überzeugend. In beigem, biedermeierlichem Frack macht er konventionelle Enge und dogmatischen Anspruch eines lieblosen Vaters nicht unbedingt glaubhaft. Nicht Kälte, Inhumanität und Prüderie, nicht gesellschaftliche Heuchelei und verlogene Ehrbegriffe, sondern Egoismus und Kleingeistigkeit kommen da rüber.
Und auch der karriere- und geldgierige Widerling Leonhard kommt bei Christof Seeger-Zurmühlen zunächst einmal nicht wirklich unsympathisch, weder schleimig noch rücksichtslos daher, nur kleinlich und leicht ironisch lässt er seine Braut auflaufen und abblitzen. Doch dann, als der Rivale, Klaras Jugendfreund Friedrich, auftaucht, nimmt das Ganze ungewohnt Fahrt auf. Zunächst erleben wir eine ganz neue Klara: sie tritt aus ihrer puppenhaften Figürlichkeit heraus, erinnert sich in anrührender Innigkeit mit Friedrich an gemeinsame Kindertage, an Blindekuh und andere Spiele, und er, in heutiger Kleidung, mit Schlabberpullover und Strickmütze, bekennt ihr seine Liebe: eine Hoffnungsspur tut sich auf, Friedrich scheint aus einer anderen Zeit in den Museumskasten gefallen. (Übrigens ein überzeugender erster Auftritt des jungen Schauspielers Henning Flüsloh im Düsseldorfer Ensemble). Doch dann verflüchtigt sich die Chance. Friedrich - jetzt auch in biedermeierlichem Outfit - fordert Leonhard zum Duell und eine kuriose, höchst akrobatische Kampfszene spielt sich auf den musealen Stufen ab, an deren Ende beide tot sind. So ganz will einem allerdings der Sinn dieser Lacher provozierenden Slapstik-Einlage nicht aufgehen. Bei diesem Kampf geht es offensichtlich nicht um die Ehre einer Frau, sondern um lächerliche Selbstdarstellung und das will nicht recht zu Friedrich passen, der doch bisher nicht als alberner, selbstverliebter, sondern als verständnisvoller Kämpfer um seine Klara aufgetreten war.
Am Ende ist es Klaras Bruder Karl, wurschtig gegeben von Alexeej Lochmann - der seine etwas eigenwillige heutige Kostümierung, einen Nadelstreifen-Overall, gar nicht erst ablegt - der für sich eine Zukunftsperspektive entwirft: er plant nach Amerika auszuwandern. Man gönnt es ihm, er war zwar involviert ins Geschehen: seine fälschliche Beschuldigung als Juwelendieb und die ungerechte Verhaftung stürzten die empathielose Mutter (Tanja Schleiff) zwar in den Schreckenstod, doch geht ihn das alles nicht wirklich an. Schuldlos-schuldig schaut er zu.
Meister Anton steht am Ende in schlabberiger heutiger Kleidung da: er hat nichts begriffen. „Sie hat mir nichts erspart“, jammert er. „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“ Da braucht‘s keinen Extra-Hinweis auf die #Metoo-Debatte. Wer Ohren hat zu hören und Augen zu sehen, sollte die Hinweise der Inszenierung auch so verstanden haben.
Friedrich Hebbel stattet in seiner letzten Bürgerlichen Tragödie seine Figuren mit einer ungemein eindringlichen und völlig unpathetischen Sprache aus. Sprache und Figuren seines Poetischen Realismus verzichten ganz auf idealistische Überhöhung. „Er schuf eine Sprache, die heute noch ein Ereignis ist, bildmächtig, grausam, zärtlich und flink“, so Frederik Tidén im informativen Programmheft. Und textgetreu - ergänzt durch einige Zitate Hebbelscher Gedichte - bringt der Hamburger Theatermann Klaus Schumacher das Stück mit seiner hart, kantig und konsequent erzählten Geschichte auf die Bühne und schafft mit dem virtuosen dualen Regiekonzept - dem schnörkellosen Museumskasten inmitten ungemütlicher Betonwirklichkeit - ironische Distanz und tragfähige Brücken zugleich. Grandios gelingt den Schauspieler*innen der rasante Kostüm- und Zeitenwechsel über die fast zweistündige Aufführung hinweg
Am Ende stehen sie alle in Alltagskleidung auf der Vorderbühne. Man glaubt es Ihnen - wie auch dem Regisseur, dem Live-Musiker, dem ganzen Team - dass sie im Heute angekommen sind und dankt mit jubelndem Applaus.
* Aus Hebbels Tagebuch im Entstehungsjahr von Maria Magdalena