Durch alle Zeitschichten flirrt die Ahnung vom glücklichen Ende
Es ist das vorletzte Stück der Mülheimer Theatertage, deren Spielstätten uns seit Jahren vertraut sind; heute aber schickt man uns an einen unbekannten Ort, in die „dezentrale“, ein ehemaliges Ladenlokal, jetzt Begegnungsstätte: Ein schlichter Raum, die Stuhlreihen ohne Anstieg, vorne ein Freiraum als Bühne und dahinter das einstige Schaufenster: eine große Glaswand mit Ausblick auf eine vielbefahrene, vierspurige Verkehrsstraße. Gelbe und grüne Busse, Autos, ein Polizeiwagen im Einsatz, Radfahrer und Fußgänger - irgendwann auch ein himmelblauer Trabi und eine biedermeierliche Kutsche - passieren das Fenster und werden zu „Mitspielern“. Denn eben dieses Geschehen „draußen und jetzt“ gehört bei der Leipziger Inszenierung des Regisseurs Philipp Preuss zum Stück. (Allerdings geht in Leipzig der Dittrichring am Haus vorbei: die geschichts- und politikbeladene Route sowohl der Montags- als auch der leidigen Pegida-Demonstrationen.)
Aus dem Off ertönt lauter Elektro-Beat, von hinten stürmen ein Mann und drei Frauen, alle in weißen Roben, nach vorn ans Mikrofon und beginnen abwechselnd, auch mal chorisch, mit dem lyrischen Text von Thomas Köck, der uns wie ein geheimnisvolles Poem anrührend und erschreckend über fünfundneunzig Minuten fesseln wird.
„glück hieß
überlebt zu haben…
glück hieß
ein Stehplatz in der Hölle…“.
Glück für wen?
Langsam formt sich aus den Andeutungen des Textes eine Geschichte, genauer: drei Lebensgeschichten über Zeiten und Kontinente hinweg: In den 1970-er Jahren macht sich in Saigon eine Vietnamesin auf die Flucht vor den roten Machthabern, landet nach einem dramatischen Schiffbruch als „Boatpeople“ auf der malaysischen Insel Pulau, wird von ihrer Tochter getrennt, glaubt sie verloren. Doch das Mädchen überlebt, kommt als „Vertragsarbeiterin des Vietnamesischen Bruderstaates“ als billige Arbeitskraft in die DDR. Als sie sich in den Dolmetscher verliebt und schwanger wird, droht ihr die Abschiebung, vor der sie auch in den Unsicherheiten der Wendezeit nicht sicher ist. Das Kind wächst in Deutschland auf und macht sich jetzt, nach dreißig Jahren - mit einem vergilbten Foto im Gepäck - auf nach Saigon, die Großmutter zu suchen und sitzt nun auf unbestimmte Zeit irgendwo im Transitraum eines Flughafens fest. „Delay, delay“, zieht sich die Ansage motivisch durch den Text - während der Aschenregen eines Vulkans alle Uhren anhält.
Doch nicht die individuellen Biografien, sondern die Verschränkung der Zeiten und sich wiederholenden Ereignisse sind inhaltlich und formal das Anliegen des Stücks. So bleibt es ungewiss, ob Großmutter und Enkelin sich erkennen, ob es ein Wiedersehen von Mutter und Tochter gibt. Zutiefst anrührend sind dabei die Erzählungen einzelner Episoden, wie der verzweifelte Kampf um die Rettung des Kindes bei der Schiffskatastrophe und die allgegenwärtige Trauer um den Verlust. Dabei kommt es zu faszinierenden Bildern zwischen „drinnen“ und „draußen“, wenn wir eine Schauspielerin - vielleicht in unserer Fantasie längst die überlebende Tochter - in der Ferne, auf der anderen Straßenseite im Dämmerlicht sehen, während die Stimme der klagenden Mutter „drinnen“, im Hier-und-Jetzt gefangen ist. Dazwischen schieben sich mit aufkommender Dunkelheit irritierend - gleichsam als dritte Spiel-Ebene - die Spiegelbilder der Drinnen-Spieler.
Obwohl der Text nicht dialogisch, sondern als erzählende Textfläche mit ständigen Verschränkungen von Zeit und Ort und endlosen motivischen Wiederholungen arbeitet, hat unser inneres Bild längst die vier virtuosen Schauspieler*innen den Personen der Erzählung zugeordnet, zumal sie den entsprechenden Generationen angehören: Ellen Hellwig (geb. 1946) berichtet erschütternd vom Leid der Großmutter, Sophie Hollinger (geb. 1978) steht für die mittlere und Marie Rathscheck (1990) für die Enkelgeneration. Keine von ihnen hat einen vietnamesischen Hintergrund, vielmehr sind Norwegisch, Schwiizerdütsch, Französisch und Serbisch (Denis Petkovic) neben Deutsch ihre Muttersprachen und um die Allgemeingültigkeit dieser Schicksale, ihre exemplarische, ort- und zeitlose Bedeutung zu unterstreichen, lässt Philipp Preuss manche Partien in all diesen Sprachen vor- und nachsprechen. So entsteht eine flirrende Metaebene, die sich als Ahnung über alle historischen und heutigen Fakten legt.
Wenn am Ende draußen eine komfortable Kutsche vorfährt - von zwei Schimmeln gezogen und von einem Zylinder tragendem Kutscher gelenkt - und unsere vier Mimen, jetzt in aufwendigen Biedermeier-Kostümen, wohlgelaunt einsteigen und davonfahren, bedarf es vielleicht doch für den Einen oder Anderen einer kleinen interpretatorischen Hilfe: Die Szene soll an die Französische Kolonialherrschaft im 19. Jahrhundert erinnern. Ein hübscher Geck zum Schluss.
Thomas Köck liefert mit diesem literarisch anspruchsvollen, formal höchst kunstvollen Text den Beweis, dass zeitgeschichtliche und politisch aktuelle Probleme nicht mit lehrhaften Attitüden und erhobenem Zeigefinger auf der Bühne behandelt werden müssen.
Manch einer im begeisterten Publikum wünschte am Ende mit mir, dass Thomas Köck für dieses Stück den Dramatikerpreis erhalten möge - mit dem er übrigens auch schon im Vorjahr für sein Stück paradies spielen (abendland. ein abgesang) ausgezeichnet wurde.