Der vertauschte Mörder
DISKO - so der Titel, doch im Theatersaal davon keine Spur: keine Spiegelkugel, keine Lichteffekte, kein Diskosound, nichts als eine riesige Guckkastenbühne mit farblosem, zugezogenen Vorhang, rechts davon eine Tür, davor vier Fahrräder.
Dann wird’s stockdunkel im Saal, der Vorhang öffnet sich und in gedämpftem, farbigem Licht stehen vor einer glitzernden Rückwand drei Laufräder, die weiß Gott eher an ein Trimm-Studio als an eine Disko-Hölle erinnern. Aus dem Off ertönt hämmernder Beatbox-Sound und dann - zum Swing-und Soulsong „Arround the World… just la la la la la…“ - laufen sieben Figuren auf. Ein Typ, schick in weißem Anzug, übernimmt mit elektronisch verzerrter Stimme das Kommando, postiert sich vor der Disko-Tür und entscheidet, wer rein darf und wer draußen bleibt. Die Auswahl scheint paradox: die in Alltagsklamotten dürfen rein, abgewiesen werden die Feingemachten, die in Glitzersuits, mit üppigen Lockenperücken Aufgemotzten: sie stehen nicht auf der Liste, kennen den Code, die Spielregeln nicht: sie sind die Fremden, die Geflüchteten. Ihnen bleibt nichts, als die Räder zu besteigen und weiterzuradeln… arround the World. Da sind wir schon beim narrativen Background des Ganzen: die Disko als Parabel für die gescheiterte Willkommenskultur.
Die Reingelassenen besteigen inzwischen die Laufräder und - getreu der These Canettis, dass „der Rhythmus ursprünglich ein Rhythmus der Füße“ ist, klinken sie sich ein in den Rhythmus des Beats, rennen und rennen, und auch ihr Text „rennt“ mit. In einem total reduzierten Techno-Sprech stoßen die Läufer Wortfetzen hervor. Endlose Wiederholungen von Hi, Tschick, Bums, Bam, Los... greifen ineinander, schaffen ein Loop, gespickt mit Pop-Zitaten aus Klassikern wie „Can’t Get You Out of My Head“ (Kylie Minogues ) oder „Murder on the Dancefloor“ (Sophie-Ellis Bextor) - ein Text, der sich im Disko-Massaker des Stücks konkretisiert (Musik: grandios Jan S. Beyer). Es ist der Rhythmus der elektronischen Musik, der Pop-Songs, die Wolfram Höll zu seiner rhythmisierten Kunstsprache animierte und die in der Aufführung gleichsam als Sprech-Symphonie daherkommt. Und das nicht nur akustisch: auch das Text-Layout gleicht einer Sprach-Partitur. In einer Tabelle mit neun Spalten stehen die Kurztexte der Sprecher - bis auf den Flüchtling Momo alles namenlose Protagonisten - synoptisch nebeneinander. Virtuos, wie die Schauspieler*innen mit dieser Parallelschaltung umgehen, wie sie mal einzeln, mal gleichzeitig, fast immer aber aneinander vorbei sprechen. Da kommt es kaum einmal zum Dialog, da wird kein Kontakt aufgenommen, selbst Flirtversuche gehen ins Leere, das Objekt ist austauschbar. Dabei wird alles gegen den Beat-Sound angesprochen, nein, nicht gesprochen, vielmehr skandiert, in einem mehr oder weniger monotonen Sprechgesang rhythmisch rezitiert. Erst ganz am Schluss, nachdem alle vorab schon gestorben waren, kommt es zu einem gemeinsamen Text, der über die Spalten weggeschrieben ist, und die Flüchtlingsproblematik noch einmal zusammenfasst. Ein bisschen lehrmeisterlich.
Doch davor passiert noch Einiges: Nebel steigt auf, die Flüchtlinge drängen in den kleinen Vorraum zur Disko, der hämmernde Beat bricht ab, ein einziger schriller Ton steht endlos im Raum, dann gibt der Türsteher nach, alle dürfen rein, mischen sich unter die „Einheimischen“. Es scheint zu funktionieren. Polit-Fetzen schwirren umher: Das schaffen wir! Wir sind das Volk. Aber auch: Das war die falsche Entscheidung.
Dann kommt es zur Katastrophe: Einer wird erstochen, auf der Bühne setzt er sich schlicht vor die Rückwand. Momo wird beschuldigt, er verlässt die Bühne und setzt sich ins Publikum. Das Morden geht weiter - er war es also nicht. Einer nach dem anderen setzt sich vor die Glitzerwand. Da fehlen starke Bilder. So harmlos und maschinell sollte ein Massaker nicht ablaufen - auch nicht in Hölls stilisierter, empathieloser Disko-Welt. Und während im Textbuch der Mörder einer der vordem Abgewiesenen ist, einer, der Kränkung erfuhr und auf Rache sinnt, lässt der Regisseur Ivan Panteleev den Türsteher die Morde ausführen und dann auch noch darüber berichten. Eine makabre Uminterpretation. Ein krasser Eingriff der Regie, der sich in einer Uraufführung nur schwer begründen lässt. (Auch in dem anschließenden Publikumsgespräch fand der Dramaturg Georg Mellert keine plausible Erklärung.)
Am Ende steht Momo - jetzt ohne die Wuschelperücke - mit einem Solo auf der Vorderbühne: „Nach den Trümmern der letzten Nacht, jetzt ein neuer Tag.“
Vielleicht doch noch ein Hoffnungsschimmer.
Das Publikum applaudierte begeistert für fünfundsiebzig Minuten Gesellschaftskritik auf hohem Niveau.