Ein Lehrstück ohne Lehre
Auf der Rückwand der kleinen Studiobühne flimmert ein Sternenhimmel hinter den riesigen Leuchtbuchstaben „WEST GO“, die uns in unterschiedlichen Farben durch den Abend begleiten werden. Davor ein knallroter Erdhügel, aus dem ein einsamer Kaktus aufragt. Auf dem Boden verstreut liegen vier bizarre Comic-Figuren mit überdimensionalen Köpfen und hinter dem Hügel kriecht eine ziemlich ramponierte Kopie der Freiheitsstatue hervor. Mühsam versucht sie, sich zu erheben, fällt mehrfach stöhnend zurück, bevor sie sich aufrappelt.
Auf Englisch und Deutsch ruft sie die Massen zusammen und stellt die Kernfrage des Stücks: „ Was ist der zentrale Wert der westlichen Welt?“ „Freiheit“, ist die vermutete Antwort. Doch die hundertvierzigjährige LADY LIBERTY relativiert die Behauptung sogleich mit Verweis auf die mexikanische Grenze, auf Flüchtlingsboote im Mittelmeer, auf alle, die in ihrem „40-Stunden-Job unterfordert und genervt“ sind, auf Nordkorea und schließlich auf jene „erwachsene Frauen in Griechenland, Italien, Österreich, Japan und Australien, die sich nicht heiraten dürfen“. Damit gibt uns gleich der Eingangsmonolog einen Vorgeschmack dessen, was uns erwartet: ein Rundumschlag.
Der Westen ist out. Alles zerfällt, alles nur Lug und Trug. In zweiundzwanzig Kurzszenen galoppieren wir durch die Übel aller Zeiten: da begegnen uns die treulosen Söhne des römischen Kaisers Flavius Theodosius, die das Reich zerstückelten, der Ausbeuter Christoph Kolumbus sowie die Sklavenhändler in Afrika. Dann bangen wir sowohl mit der Mannschaft eines russischen U-Bootes in den Meerestiefen als auch mit einer Panzerbesatzung, die im Zweiten Weltkrieg die Orientierung verlor. Der Beinahe-Atomkrieg während der Kubakrise, die Mondlandung und die Wende 1989 kommen vor. Dann treten auch noch Angela Merkel, Gerhard Schröder und Donald Trump auf (alle drei als völlig verunglückte Pantomimen) und letztendlich - nach einem Fast-Meteoriten-Einschlag - sind es die Chinesen, die nicht nur die Erde, sondern auch das Weltall diktatorisch beherrschen. Zwischendurch geht’s noch in einer höchst kuriosen Szene um die Massentierhaltung, in einer anderen um den Waffen-Wahn und last but not least um den bitterbösen Kapitalismus, dessen Fazit lautet: „Die einzige Möglichkeit, sehr, sehr reich zu werden, ist: vorher schon reich zu sein.“
Damit das Ganze auf der Bühne nicht zum trockenen Lehrstück verkommt (eine Gefahr, die sich beim Lesen des nicht eben humorigen Textes aufdrängt), steckt die Bühnen- und Kostümbildnerin Trixy Royeck die fünf Schauspieler in immer neue witzige Comic-Kostüme mit besagten Riesen-Köpfen, die sie beim Sprechen allerdings abnehmen. Da behauptet Dagoberg Duck in einem Becken voller Gold zu schwimmen, Cowboy Lucky Luke, noch mit siebzig der schnellste Schütze der Welt zu sein. Und Superman glaubt als intergalaktischer Migrant an die Werte der westlichen Welt - zumindest für sich: weiß, männlich, reich.
Begleitet und belebt werden die eher kabarettistischen Sketche einerseits von aufmunternder Film- und Fernsehmusik - so bei Lucky Luke von „Natural Born Killers“-, andererseits von einem grandiosen, raumgreifenden Video, das sich gleichsam als „sechster Mitspieler“ thematisch einbringt.
Daraus ergibt sich ein farbenprächtiges Spiel über hundert Minuten mit rasanten Rollen- und Szenenwechseln, doch wirkliche Pointen bleiben aus und auch der Erkenntniswert geht über Allseitsbekanntes und vielfach Diskutiertes nicht hinaus.
Dann folgt noch ein Epilog: ein NACHHER.
Der Tod erscheint im Hausmeister-Outfit und hält einen langen Nach-trag mit dem Fazit: „… nie verstehe ich die Menschen des Westens und ihr sinnloses Streben“. Und für alle, die es noch nicht verstanden haben, folgt noch ein Anhang: da taucht Frederik auf (die Maus aus dem Kinder-Bilderbuch von Leo Lionni, die für die kalten Wintertage statt Körnern, Sonnenstrahlen, Farben und Wörter sammelt). Bei Küspert sammelt Frederik die Erinnerung an Wirtschaftswunder, Mondlandung, Bafög, Erasmus und einiges mehr. Armer Frederik!
Wenn dann zum Abgang der Kanon: Hejo, spann den Wagen an… eigespielt wird, bin ich nicht sicher, ob es eher Schülertheater oder schon Kitsch ist.