Die Abweichungen im Mülheim/Ruhr

Tote Putzfrau sorgt für Unordnung

Das Schwulen-Paar Walter und Adam hat eine Tochter. Emily ist jetzt 16 Jahre alt. Aber der Plastik-Dinosaurier, mit dem sie als Kind gespielt hat, findet sich überraschend in Walters Projektschrank – anstelle der Projekt-Unterlagen. Genau genommen findet sich die Miniatur des Sauriers in der Miniatur des Schranks in der Miniatur der Wohnung von Walter und Adam, die in der Preview einer Kunstausstellung zu besichtigen ist. Und der Schrank steht in dem Kunstwerk nicht an seinem originalen Platz, sondern im Nachbarzimmer.

Franz und Lisa Kaindl haben einen Sohn. Einen, nicht zwei. Doch die Kunstausstellung zeigt neben der Miniatur des Sohnes in der Miniatur der Wohnung von Lisa und Franz noch ein zweites Kind. Einen zweiten Sohn, den bei den Kaindls niemand gehabt haben will.

Nebenan steht die Miniatur der Wohnung eines anderen Ehepaars. Wie die Nachbildungen der übrigen Behausungen ist sie eine ungewöhnlich exakte, nur verkleinerte Kopie des Originals. Doch anstelle des Kühlschranks steht ein Ticketautomat in der Küche. Die Abweichungen hat die Putzfrau eingefügt: Jennifer Jassem, die in all den Familien, um die es hier geht (zusätzlich noch bei dem anrührenden alten Ehepaar Hans und Ulrike Schab) als Raumpflegerin angestellt war. Damit hat sie mächtig für Verwirrung gesorgt - posthum: Denn Jennifer ist tot. Sie hat sich kurz vor der Eröffnung der Ausstellung umgebracht.

Es ist schon eine surreale Situation, die Clemens J. Setz zum Ausgangspunkt seines jüngsten Dramas nimmt. Surreal, aber dennoch nicht völlig unrealistisch – eine Putzfrau als verkannte Künstlerin (oder eine Künstlerin, die sich als Putzfrau durchschlagen muss) mag es durchaus geben. Doch die kleinen Abweichungen, die Jennifer in ihre Nachbildungen eingearbeitet hat, verstören die Besitzer der realen Wohnungen. In unterschiedlichem Ausmaß allerdings: Emily, die gerade eine Beziehung mit Kaindls Sohn Tom beginnt, findet die Miniaturen nur cool und widmet sich lieber ihrer knospenden Liebe. Walter nimmt eine Entwicklung vom cool-amüsierten Betrachter zum unausgeglichenen, reizbaren Mann, der zu Hause den Schrank an die Stelle rückt, die die Putzfrau in ihrem künstlerischen Nachlass vorgeschlagen hat. Ulrike freut sich über das kleine Reptil, das in der Nachbildung alle Räume ihrer Wohnung durchschlängelt, aber der demente Hans entwickelt zunehmend einen Hass auf die sonst als so zuverlässig und liebenswürdig geschilderte Jennifer und wettert gegen deren Faulheit und migrantische Herkunft. Am schlimmsten aber trifft es Franz Kaindl, der der Kuratorin mit Verboten, Unterlassungsklagen und Gerichtsverfahren droht. Sven Prietz, der in Elmar Goerdens Inszenierung vom Schauspiel Stuttgart den Lehrer Kaindl gibt und überzeugend das wachsende Brodeln und die explosive, aber noch halbwegs unterdrückte Wut im Inneren des humorlosen, fast faschistoiden Spießers zum Ausdruck bringt, läuft irgendwann mit einem Benzinkanister durch die Szene – besser: am Rande der Szene, denn Plakativität ist Elmar Goerdens Sache nicht.

Glitches“ nennt der Autor Clemens Setz diese kleinen Abweichungen – analog zu unabsichtlichen Fehlern im Code eines Computerspiels, die zu vorübergehenden kleinen Bildstörungen und manchmal gar veränderten Wahrnehmungen führen können. Er betrachtet solche Glitches als eigene Kunstform – sie ist eine Kunstform des Absurden. Diese Glitches können in Setz‘ Stück nicht nur verstörende, sondern geradezu zerstörende Wirkung entfalten: In der Beziehung von Walter und Adam beginnt es heftig zu kriseln, Hans wird von seiner Ulrike nicht mehr gepflegt werden können und muss ins Heim, die Ehe von Lisa und Franz geht mehr und mehr vor die Hunde, und Lisas Depressionskrankheit steuert auf einen neuen Höhepunkt zu – allerdings nicht wegen des angedichteten zweiten Miniaturkindes, sondern wegen eines merkwürdigen Wahns, die von der Selbstmörderin berührten Gegenstände in ihrem Haushalt könnten eine negative Aura bewirken. Aber wohl auch wegen des zunehmend aggressiven Verhaltens der Kanaille Franz: Der wird vorübergehend wegen Stalking festgenommen. „Das Interieur (einer Wohnung) ist nicht nur das Universum, sondern auch das Etui des Privatmanns“, wird Walter Benjamin im Programmheft zitiert. Das Etui passt plötzlich nicht mehr.

Der Zuschauer ist stets auf der Suche nach Hinweisen, was hinter den von Jennifer vorgenommenen Veränderungen steckt. Und er macht eine psychologische Selbsterfahrung: Je heftiger die Reaktion der handelnden Personen ausfällt, desto stärker vermutet er eine Botschaft hinter Jennifers Abweichungen. Ticketautomat statt Kühlschrank: So what! - Walter wird unruhig und räumt den Projektschrank aus: Hat er etwa etwas zu verstecken? – Die verbalen Ausfälle von Hans werden immer heftiger: Gibt es da eine totgeschwiegene Vergangenheit – Demütigungen der Unterklassen-Putze oder einen Missbrauch gar? – Und Kaindls zweites Kind, verbunden mit der verdrucksten Depression seiner Gattin: Da muss es doch ein lange gehütetes Geheimnis geben?

Doch Clemens Setz erklärt nichts. Glitches sind eben auch eine unabsichtliche Kunstform. Nein, wir mögen nicht glauben, dass Jennifer die Abweichungen versehentlich eingefügt hat – sie wird sich schon etwas dabei gedacht haben. Aber was, das hat sie verschwiegen. Und warum sie sich umgebracht hat, auch. Clemens Setz ist ein vertrauenswürdiger Geheimnisträger – auch er plaudert nichts aus. Zum Glück vielleicht: Das erhöht den absurden, schwebenden Charakter seines Stücks. Nur darum ist es Elmar Goerden in seiner Uraufführungs-Inszenierung gegangen. Manche Premieren-Rezensenten haben einen politischen Ansatz in Goerdens Inszenierung vermisst: das Herausarbeiten der Klassengegensätze zum Beispiel. Ansätze dafür könnte man finden: in dem unbarmherzigen Zetern des dementen Opas (Peter Rühring), in der wunderbaren sprachlichen Pointe der Kuratorin (Josephine Köhler), die sich Jennifers eigene Wohnung angeschaut hat: Angesichts von deren Enge „wölbt sich einem das Universum in die Kniekehlen“. In einem Interview, das Setz vor der Premiere der Zeitschrift Theater heute gegeben hat, weist der Autor tatsächlich darauf hin, dass Jennifer in ihrem schlecht bezahlten Job „verschiedene Rollen, von idealisiert bis körperlich misshandelt und verachtet“ innegehabt habe. Dennoch seien Zweifel erlaubt, dass Setz an einer starken Polit-Kritik gelegen war. Nahezu alle Klientinnen und Klienten des Stücks äußern sich liebevoll über die verstorbene Putzfrau. Goerden hat stattdessen ein unterhaltsames Stück Absurden Theaters inszeniert, mit einem augenzwinkernden Seitenblick auf die Absurditäten und Eitelkeiten des Kunstbetriebs. Ganz im Sinne des Autors regt die Inszenierung an, die Geschichte weiterzudenken, über Hintergründe des Verhaltens der lebenden und toten Protagonisten zu spekulieren oder die Geschichten mit eigenen Erfahrungen aufzuladen.

So geraten Clemens Setz‘ Abweichungen zu einem unterhaltsamen, manchmal sogar vergnüglichen Abend. In einem schwarz-weißen Bühnenbild, das die Architektur des Bauhauses zitiert und als Kunstraum oder Galerie durchgehen würde, fließen die kurzen Szenen nahtlos ineinander, so dass die Angelegenheit recht schwungvoll über die Bühne geht. Die großartigen Schauspieler sorgen dafür, dass der Abend nicht ins Harmlose abdriftet. Sie stellen unterscheidbare, aber realistische Figuren dar – und dieser darstellerische Realismus ermöglicht erst die Leichtigkeit und die schwebende Wirkung des Absurden. Sven Prietz‘ miesepetrigen Spießer haben wir schon erwähnt; ihm konträr gegenüber steht die wunderbare Gutherzigkeit und Zugeneigtheit von Anke Schuberts Ulrike. Boris Burgstaller und Reinhard Mahlberg geben ein selbstverständliches, souveränes Schwulen-Paar, das im Verlauf der Handlung mehr und mehr die Sicherheit und Verlässlichkeit ihrer Beziehung in Frage stellt. Verena Buss überzeugt als blinde, zwischen Selbstbewusstsein und krankheitsbedingter Unsicherheit changierende Mutter der Kuratorin, und ein kleines Kabinettstückchen gelingt Julius Forster als vergeistigtem, nerdigem Assistenten des Kunstbetriebs.

Die Schlussszene wirkt ein wenig überflüssig. Aber auch sie hat noch einmal etwas bewusst Uneindeutiges. Viele Jahre später sitzt der stark gealterte Franz Kaindl nach einer Operation im Zimmer eines Pflegeheims. Er begreift nicht mehr viel; mit dem üblichen paternalistischen Ton des Pflegepersonals in Altenheimen versucht man, ihn bei Groschen zu halten. Sein Kanarienvogel ist tot; seine Familie besucht ihn offenbar nicht mehr. Das einzige, was ihm geblieben ist, ist Jennifer Jassems Miniatur seiner alten Wohnung. Sie ist sein Ein und Alles. „Es ist immer gut, Leute, die viel anrichten in so einer Geschichte, zu bestrafen“, sagt Clemens Setz in Theater heute. Aber nur ein bisschen: Man füttert und stützt ihn ja noch. Es ist wohl auch selbstironisch, wie Setz das sagt. Aber es hat auch etwas Versöhnliches, dass der alte Kaindl mit den Abweichungen seines Lebens seinen Frieden gemacht hat.