Von den Grenzen humanistischer Moral
Am Tag der Premiere war vor der tunesischen Küste ein Flüchtlingsboot gesunken. Nur wenige Fischerboote befanden sich in der Nähe des havarierten Schiffes, so dass nur 16 Menschen gerettet wurden. Die Anzahl der Toten gab das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen mit mindestens 65 an. Viele der Premierenzuschauer im Theater Münster werden wie der Unterzeichner erst auf der Fahrt zum Theater von dem Unglück erfahren haben.
Nicht 16, sondern nur 15 Menschen haben im Juli 1816 die Irrfahrt mit dem Floß der Medusa überlebt – 15 von 147. Es handelte sich um einen Teil der Passagiere und der Besatzung der französischen Fregatte „Méduse“, die auf dem Weg in die von den Franzosen zurückgewonnene Kolonie Senegal vor der Küste des heutigen Mauretanien auf eine Sandbank aufgelaufen war. Ein eitler, unfähiger und beratungsresistenter Kapitän, der nie zuvor zur See gefahren war, hatte die Verantwortung für die „Méduse“ getragen. Offenbar ein früher Vorläufer des Francesco Schettino, machte er sich nach der Havarie als einer der ersten auf und davon. Denn ihm war klar: Die sechs Beiboote, über die die Fregatte verfügte, würden nicht annähernd für die 400 Passagiere und Besatzungsmitglieder ausreichen. Man baute ein fragiles Floß, das, mit 147 Personen vollkommen überladen und halb unter der Wasseroberfläche schwimmend, von den Beibooten an Land gezogen werden sollte. Doch bald kappten die Männer auf den Beibooten die Leinen: Ohne den Ballast der 147 Menschen kam man schneller ans rettende Ufer…
Als das Floß nach ca, zwei Wochen von einem anderen Schiff aufgegriffen wurde, lebten noch 15 dieser 147 Menschen. Die übrigen waren an Schwäche oder Verletzungen gestorben, hatten sich vor Angst oder Schmerzen umgebracht, waren im Sturm über Bord gegangen oder erschossen worden. Vom Fleisch der Toten ernährten sich die Lebenden. Diese Vorgänge dienten dem österreichischen Schriftsteller Franzobel als Vorlage für einen opulenten Roman, in dem er untersucht, was im Augenblick der Lebensgefahr von Menschlichkeit, Moral und Humanismus übrig bleibt.
Viele Künstler haben sich mit dem Unglück der Medusa auseinandergesetzt. Bekannt ist das im Louvre befindliche Gemälde Das Floß der Medusa von Théodore Géricault, das im Eröffnungsbild der Inszenierung von Stefan Otteni nachgestellt wird. Auf Peter Sciors Bühne bilden Seemannskoffer und Schiffstruhen die Planken des Floßes, auf dem Schiffbrüchige in einem dramatischen tableau vivant in Richtung Meer winken und mit einem roten Tuch auf sich aufmerksam zu machen versuchen. Das Meer erblicken wir als Videoinstallation hinter dem stilisierten Boot. Vor dem Videoschirm, fast wie im Meer schwimmend, sehen wir Medusa selbst: Mariana Sadovska ist auch für die Musik verantwortlich und entlockt ihrer Stimme und ihren Instrumenten fremde und geheimnisvolle Töne.
Otteni konzentriert sich in seiner Inszenierung am Theater Münster vor allem auf das letzte Drittel von Franzobels mehr als 600 Seiten langem Roman, nämlich auf die Vorgänge an Bord des Floßes. Doch zunächst lernen wir die wesentlichen Akteure auf der Fahrt der „Medusa“ in den Untergang kennen. Es ist die Zeit kurz nach der endgültigen Abdankung Napoleons und der Wiedereinsetzung der bourbonischen Monarchíe. Die Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord der Fregatte sind ein Abbild der französischen Gesellschaft zu Beginn der Restauration. Ausführlich streift die Inszenierung die politischen Konfliktlinien, die sich vom streng royalistisch gesinnten Kapitän de Chaumareys, den Carola von Seckendorff als die inkompetente und effeminierte Flitzpiepe karikiert, die er auch in Franzobels Roman ist, über die nur an ihren Privilegien interessierte Gouverneursgattin Reine Schmaltz und den bigotten Missionar Jean-Pierre Maiwetter bis zu dem an demokratischen Idealen orientierten Schiffsarzt Savigny erstrecken. Auch Koch und Schiffsjunge bevölkern die Szene. Savigny, so beiläufig wie überzeugend gespielt von Christian Bo Salle, erkennt die Inkompetenz des Kapitäns und übernimmt bereits auf der Medusa, umso mehr später beim Bau des Floßes, die informelle Führung der Gruppe, ist jedoch ebenfalls noch geprägt von der Autoritätshörigkeit seiner Epoche.
Diese politisch und moralisch so unterschiedlich geprägte Gesellschaft diskutiert über Glaube und Aberglaube, Pietismus und Atheismus, Demokratie, Aristokratie und Revolution sowie über die Gleichheit der Menschen vor der Guillotine. Ein wenig verzettelt sich die Inszenierung in diesen Diskussionen; die häufigen Rollenwechsel der Schauspieler erschweren ab und an die Orientierung. Wir werden später die Bedeutung für den Fortgang der Geschichte erkennen, aber nicht die Dringlichkeit für unser Hier und Heute. Das ändert sich auch nicht, als die „Medusa“ auf die Sandbank läuft, obwohl nun empörende und grauenvolle Ereignisse geschildert werden. Der Kapitän macht sich schleunigst aus dem nassen Staube und belegt 20 potentiell lebensrettende freie Plätze im Beiboot durch eine Guillotine, die er an seinem Ziel für unerlässlich hält. Dem verletzten Schiffsjungen Arnaud wird brutal per Beil der Unterschenkel amputiert. Es gibt Suizide und Suizidversuche, sinnlose Wutausbrüche und Kämpfe zwischen den Schiffbrüchigen auf dem Floß, das von den Beibootfahrern hilflos ausgesetzt wird. Man muss nicht an das vor wenigen Stunden gesunkene Flüchtlingsboot vor Tunesien denken, um zu begreifen: Ja, all dieses Elend und all diese Katastrophen gibt es heute auch auf den im Mittelmeer treibenden Totenschiffen, die auf Rettung durch oftmals eher feindlich gesinnte europäische Staaten warten. Auch auf dem Floß der Medusa hofft man auf Rettung durch die zivilisierten Europäer, und eine der Figuren fasst den Egoismus der einzelnen Staaten so prägnant zusammen, dass die politische Zustandsbeschreibung heute noch wahr ist. Dennoch entwickelt die Inszenierung mehr als eine Stunde lang nicht die Kraft, uns emotional oder auch nur intellektuell zu erreichen.
Doch dann kommt Sturm auf vor der afrikanischen Küste und dreht das Unterste zuoberst - auch bei der Rezeption der Aufführung. Um das Boot vor dem Untergang zu retten, muss es Gewicht verlieren. Die wenigen Vorräte reichen länger aus, je weniger Menschen an Bord sind. Plötzlich ist es da, das Thema, das alle totgeschwiegen haben: Kannibalismus. Einer der Verletzten will sich freiwillig opfern. Sarkastisch bemerkt er: „Vielleicht wird die Nachwelt uns feiern als Beweis für die Überlegenheit der weißen Rasse.“ Weil man sich fressen lässt zugunsten anderer... – Ottenis Inszenierung ist jetzt endgültig (und nun mit großer Dringlichkeit) angelangt bei dem großen Thema von Franzobels Roman: Was bleibt vom Humanismus und vom moralischen Impetus des Menschen, wenn dieser sich im Ausnahmezustand befindet und er akut sein Leben bedroht sieht? Die Inszenierung findet zu einem überzeugenden und doch erschreckenden Bild: Alle Schauspieler ziehen sich nackt aus. Es gibt keinen Schutz mehr und keine Verkleidung, weder real noch metaphorisch. Der Mensch ist reduziert auf seine Physis, auf das nackte Leben. Und die Nackten beschreiben, wie das Messer in das nackte Fleisch schneidet und wie es schmeckt, das Menschenfleisch. Mit diesem hammerstarken Tritt in die Magengrube entlässt uns Otteni in die Pause.
Diese Szene trägt über den dichter inszenierten 2. Teil der Aufführung, obwohl nun immer das gleiche Thema aus verschiedenen Perspektiven diskutiert wird: Darf man, muss man gar die Schwachen töten, damit die Starken überleben? Wer entscheidet solche Fragen, und nach welchen Kriterien? Weitere zehn Menschen sterben – und „zum ersten Mal hatten wir Raum“, heißt es in der Inszenierung. Verstört registrieren wir eine furchtbare Assoziation: „Volk ohne Raum“. Aber wenn wir auf dem Videoschirm die Wasseroberfläche von unten sehen und klar wird, dass die Mitmenschen zum gefährlichen Ballast werden – was tun wir dann? Was würden wir selbst tun? „Ich ahne, dass die zivilisierte Welt genauso ist wie die hier auf dem Floß“, sagt Sandra Schreiber einmal.
Wie es in der zivilisierten Welt zugeht, hören wir in der erschütternden Schlussszene. Die Inszenierung spielt Original-Funksprüche zwischen einem Flüchtlingsboot, das mit Motorschaden auf dem Mittelmeer dümpelt, und der Küstenwache ein. „Please, can you help – we’re in a boat“, ruft eine verzweifelte Frauenstimme immer wieder. Die Menschen sind in höchster Lebensgefahr, aber als die entsprechende Rückfrage kommt, sagt die Frau, wenn auch wenig überzeugend: „Yes, we are okay.“ Könnte ja sein, dass man sie sonst nicht retten würde. Am Morgen waren 65 Menschen ertrunken.