Wenn die Hyänen kommen
Sie sind ziemlich beste Freunde: Jude, Willem, Malcolm und JB. Mehr als vier Stunden lang verfolgen wir die Geschichte ihrer Zuneigung und Solidarität – über eine Dauer von circa 30 Jahren. Die vier Freunde, alle ledig, sind beruflich ausnahmslos erfolgreich: Jude als Anwalt, Malcolm als Architekt, Willem als Schauspieler und JB als Bildender Künstler. Die Wohn- und Atelier-Landschaft, in der der Bühnenbildner Jan Versweyfeld sie ihre Lebensgeschichte spielen lässt, könnte das Atelier von JB sein; sie weist aber auch Spuren des privaten und beruflichen Lebens der übrigen Akteure auf. Werk-Tische für die Malerei, eine Pinnwand für Architektur-Skizzen und Anwaltstermine sowie eine Küchenzeile konkretisieren den Lebensraum der Akteure und lassen ihn gleichzeitig im Ungefähren. So kann die Bühne auch einmal als Krankenhauszimmer oder als Operationssaal dienen. Auf einem breiten Videoscreen ziehen Bilder von den Straßen New York vorbei – unaufgeregt, in Zeitlupe: Das Leben ist ein langer, ruhiger Walk.
Wir verfolgen Ein wenig Leben: Die Männer witzeln miteinander, sprechen über Belangloses. Mandela Wee Wee, gebürtig aus Surinam, ist dunkelhäutig und spielt den Malcolm, Majd Mardo ist gebürtiger Syrer, kaum merklich coloured und gibt JB. Es ist der hellhäutigere, von Mardo sympathisch und locker-flockig gespielte JB, der sagt: „Ich bin schwarz – post-schwarz.“ Rassismus spielt in der fast immer harmonischen Gemeinschaft der vier Freunde keine Rolle, aber die Witzelei führt auf andere Weise zum tragischen Kern der Geschichte, ohne dass wir das zu diesem Zeitpunkt schon ahnen. JBs Witzeln geht unmerklich über in ein Sticheln: über Judes „Post-Identität“ und „Post-Sexualität“. Bald werden wir erfahren, dass Jude nur unter der Bedingung in die WG der vier Freunde eingezogen ist, dass über die ersten 35 Jahre seines Lebens nicht gesprochen wird. Und bald wird ein herbeigerufener Arzt die Freunde nach eventuellen Verhaltensauffälligkeiten Judes befragen. Noch ist so gut wie nichts passiert, doch Ramsey Nasrs intensives doppelbödiges Spiel trifft den Zuschauer schon wie ein Tritt in die Magengrube.
Was sind das für Wolken, die über dem harmonischen Zusammenleben der Freunde schweben? Das Streichquartett Bl!ndman spielt Mahler-Lieder, und Ramsey Nasr singt „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Es ist Jude, der im Mittelpunkt von Ivo van Hoves grandioser Nacherzählung des Erfolgsromans der US-amerikanischen Autorin Hanya Yanagihara steht. Nach ein wenig Leben mag er sich sehnen. In vielen langen Rückblenden erfahren wir: Sein bisheriges Leben war kein „little life“, wie Yanagiharas Roman im englischen Original heißt, sondern es war tonnenschwer. Es hat ihn unheilbar traumatisiert. Jude war ein Findelkind, aufgezogen von Patres im Internat für Waisenkinder und schwer misshandelt – durch überzogen harte Bestrafungen, vor allem aber durch sexuellen Missbrauch. Wir erleben, wie sich Hans Kesting als Bruder Luke das Vertrauen des kleinen Jude erschleicht und zum mephistophelischen Verführer wird: Er befreit den kleinen Jungen aus dem Internat, lebt in einer Wohnung und schläft in einem Bett mit ihm und verkauft ihn an andere Männer. Hans Kesting spielt auch den Caleb, den späteren Klienten des zum erfolgreichen Juristen aufgestiegenen Mannes. Jude wird seine Vergangenheit nicht los, und Sexmonster spüren das: Caleb vergewaltigt den Erwachsenen, der sich nicht wehren kann. Er quält sein Opfer physisch und psychisch und wirft es schließlich die Brandtreppe hinunter. Später fällt Jude dem extrem sadistischen Dr. Traylor (erneut Hans Kesting) in die Hände – wir wollen Näheres nicht erzählen, so unerträglich grauenvoll ist es.
Nach dem Krankenhausaufenthalt im Anschluss an die fast mit dem Tode endende „Beziehung“ zu Caleb zieht Jude mit Willem zusammen. Erstmals lernt er, auch körperliche Berührungen zu genießen. Zum Sex reicht es nicht. Im Zusammenhang mit einem Selbstmordversuch hatte Jude seine Empfindungen beschrieben: „Hinter mir eine Savanne mit Hyänen. Vor mir eine Tür, die so offen steht wie nie zuvor.“ Nach jedem versuchten Geschlechtsverkehr mit Willem „kommen die Hyänen zurück – mehr denn je.“ Jude versucht, Willem zu gefallen, auch wenn er selbst kein Begehren spürt – und orientiert sich dabei an den Vorlieben von Bruder Luke.
Mit großer Intensität und psychologischer Glaubwürdigkeit wird gezeigt, wie der Missbrauch vorbereitet wird: wie sich Bruder Luke das Vertrauen des Kindes erschleicht, wie Caleb die Unsicherheit des Erwachsenen ausnutzt. Kesting als dreifacher Dämon und der brillant seine Traumatisierungen verkörpernde Ramsey Nasr als Jude spielen grandios. (Zu Recht wurde Nasr inzwischen für die Darstellung des Jude für den Louis d’Or, einen der wichtigsten Theaterpreise der Niederlande, nominiert.) Eelco Smits als Andy und Maarten Heijmans als Willem zeigen sich auf unterschiedliche, aber berührende Weise hilflos in ihren Versuchen, Jude zu akzeptieren und zu unterstützen; Willems Zuneigung und Selbstaufopferung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der eigenen Selbstachtung ist schauspielerisch so bewundernswert wie menschlich berührend. Manche Szenen sind kaum auszuhalten: Der psychische – seltener auch der physische – Schmerz, dem Jude ausgesetzt wird, teil sich dem Betrachter unmittelbar mit. Jude versucht zu verdrängen; er redet nicht über seine Erfahrungen, die bei ihm Schuldgefühle ausgelöst haben, doch wir Zuschauer empfinden seine inneren Nöte voller Empathie. Schuldkomplexe, Bindungsängste und Schamgefühle stürzen Jude in eine lebenslange Depression: „Ich will nie wieder jemandem nahe sein“, sagt er zu Ana (Marieke Heebink), einer Art Sozialarbeiterin und Lebenshilfe-Beraterin, die manchmal wie eine dea ex machina auftaucht und in der sonst uneingeschränkt perfekten Inszenierung wie ein Fremdkörper wirkt.
Van Hoves Inszenierung erinnert in ihrer distanzlosen Empathie für seine Figuren und ihrer psychologischen Tiefe an die Couperus-Trilogie, die der Regisseur in den Jahren 2015 – 2017 bei der Ruhrtriennale zeigte (Die stille Kraft, Die Dinge, die vorübergehen, Kleine Seelen); in Deutschland kam dieser Inszenierungsweise (auch im Hinblick auf die Qualität der Aufführung) zuletzt vielleicht Daniela Löffners Väter und Söhne nach Iwan Turgenjew am Deutschen Theater Berlin nahe. Unaufdringlich fügt sich das Quartett Bl!ndman mit atmosphärischer Musik in die Erzählung ein, und auch die vorüberziehenden Bilder von den Straßen New Yorks bekommen ihren Hintersinn: Ja, das Leben ist ein langer, ruhiger Walk, doch niemand weiß, was sich hinter den heimeligen, aber auch abweisenden, anonymen Fassaden der Wohnhäuser abspielt. Wenn Jude in seiner Verzweiflung zu autoaggressiven Selbstverletzungen oder Suizidgedanken greift, verschwimmen die Konturen der Straßen und Häuser auf dem Video und die Bilder werden bis zur Unkenntlichkeit verpixelt. Die Musik bekommt dann leise, schrille Misstöne. Ramsey Nasrs blütenweißes Hemd ist am Ende vollständig durch rotes Blur getränkt.
Dr. Traylor hatte Jude mit dem Auto überfahren, als es seiner überdrüssig geworden war. Jahre später werden ihm deshalb die Beine amputiert. Nach dem Aufwachen aus der Operation zählen ihm seine versammelten Freunde alle Erfolge auf, vergegenwärtigen ihm , wie stolz er auf sein Leben sein könne. Ja, dieser Roman, diese Inszenierung ist auch eine große Erzählung über eine unverbrüchliche Freundschaft und über die Kraft der Solidarität. Es stockt einem der Atem und ist gleichzeitig ein letzter Strohhalm, an den man sich klammern kann, wenn der vom Leben gemarterte Jude feststellt: „Eigentlich habe ich mein Leben lang entsetzlich viel Glück gehabt.“
Doch nicht einmal mit diesem kleinen Lichtstreifen am Horizont lassen uns Yanagihara und van Hove davonkommen. Judes ihm unerschütterlich zur Seite stehender Lebensgefährte Willem kommt mit Malcolm bei einem Autounfall ums Leben. JB, der sich kümmern wollte, aber von Judes Ruppigkeit verletzt wurde, ruft nicht mehr an. Harold, sein Universitätsprofessor, der ihn adoptiert hatte (ebenfalls einfühlsam gespielt: Steven van Watermeulen), wird von Jude barsch zurückgewiesen. Jude bringt sich um – auf qualvolle Weise. Einem Moment der Schockstarre folgen nicht enden wollende Ovationen.