Übrigens …

Das Heerlager der Heiligen im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Schießen oder Teilen?

Schießen oder Teilen! Dazwischen gibt es nichts“, lautet Jean Raspails Kommentar zur Flüchtlingspolitik. In seinem 1973 erschienenen und 1985 überarbeiteten Roman Das Heerlager der Heiligen lässt Raspail keinen Zweifel daran, dass er das Schießen bevorzugt. Raspail ist das, was sein deutscher Verleger Götz Kubitschek als einen Rechtsintellektuellen bezeichnet – ein Zuschauer der Aufführung bei den Ruhrfestspielen, der sich intensiv mit dem französischen Schriftsteller befasst hat, nutzt ein herzhafteres Vokabular nennt ihn einen „Klerikal-Faschisten“. Raspail ist ein der identitären Bewegung nahestehender Anhänger eines ultrakonservativen Katholizismus – und er ist Monarchist: nicht, weil er aus der Zeit gefallen wäre, sondern weil er sich nach jemandem sehnt, der, wie er in einem Interview mit dem rechtslastigen Internet-Magazin Boulevard Voltaire sagt, „das Banner trägt, der das Ross besteigt, der den Weg zeigt“. „Ein Volk erlischt, das nicht mehr auf Fanfaren reagiert“, heißt es in ähnlicher Diktion in Hermann Schmidt-Rahmers Uraufführung des Romans. Der König, so legt Raspails Interview nahe, wird gebraucht als Führer des gewalttätigen Widerstands in einem Bürgerkrieg gegen die Migranten.

Auch wenn Das Heerlager der Heiligen der einzige echte Verkaufserfolg des heute 93jährigen ist, gilt Raspail als ernstzunehmender Schriftsteller. Im Jahre 1981 wurde er mit dem Grand Prix du Roman der Académie Française ausgezeichnet. Wiederkehrende Fäkal-Beschreibungen im Zusammenhang mit dem Heer der Migranten, die offenbar Ekel vor den Fremden hervorrufen sollen, wecken Zweifel am literarischen Rang des Autors. In anderen Passagen weist der Roman jedoch eine fast unzeitgemäße Eleganz der Sprache auf. Diese bringt in der Uraufführung vom Schauspiel Frankfurt, die in Recklinghausen zur Premiere kam, vor allem Michael Schütz in der Rolle des emeritierten Literarturprofessors Calguès zum Klingen - nicht ohne ein gewisses Vergnügen an der Parodie. Mit demonstrativer Noblesse und stiff underlip gibt Schütz den Repräsentanten einer distinguierten, extrem konservativen großbürgerlichen Oberschicht. Calguès‘ Wohnzimmer hat eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Bühne, die Thilo Reuther bereits vor knapp zwei Jahren für Schmidt-RahmersVolksverräter! am Schauspielhaus Bochum gebaut hat. Dort war die Wohnung von Ibsens Dr. Thomas Stockmann dem Wohnzimmer von Götz Kubitschek nachempfunden, eben jenem Verleger, der die deutsche Übersetzung von Raspails Buch vertreibt und sich als intellektuelles Zentrum der neuen Rechten inszeniert. Auch im Heerlager versammeln sich die Rechten wieder in einem altdeutsch eingerichteten Raum um einen großen Esstisch. In angedeuteter Frakturschrift prangt über der Szene der Satz „Once upon a time in Europe“, der die Sehnsucht der um Calguès versammelten Zeitgenossen nach der guten alten Zeit ausdrückt, in der alte weiße Männer uneingeschränkt die Macht hatten.

Raspail beweist in seinem Roman Das Heerlager der Heiligen verblüffende visionäre Fähigkeiten: Mit hundert Schiffen haben sich eine Million Armutsflüchtlinge aus Indien auf den Weg gemacht, die sich nun der südfranzösischen Küste nähern. Es sind die Ärmsten der Armen, und allein durch ihre Zahl stellen sie eine Macht dar, die geeignet ist, die Vorherrschaft der weißen Europäer zu brechen. Spätestens als die Schiffe das Mittelmeer erreichen, treten die Ängste der französischen Gesellschaft zutage. Es gibt die Vertreter der humanitären Lösungen, die noch an das Teilen glauben, und es gibt die Vertreter der radikalen Lösung, die Befürworter des Schießbefehls, die erkennen, dass eine kompromisslose Aufrechterhaltung der Werte und der Lebensweise der europäischen Kultur nur bei Anwendung von Gewalt möglich ist. Bereits vor der Landung der Flüchtlings-Armada setzen auch in Frankreich Fluchtbewegungen ein: Hunderttausende fliehen nach Norden. Andererseits entwickeln die bereits im Lande befindlichen Migranten aus Nordafrika plötzlich neues Selbstbewusstsein: Warum machen sie eigentlich die Jobs, für die die zarten Hände der Franzosen zu weich und zu fein sind?

Das Weiche, Verweichlichte der westlichen Gesellschaften ist für Raspail die Ursache für den von ihm erwarteten Untergang des Abendlandes. „In dem Krieg, der jetzt beginnt, werden jene triumphieren, die sich selbst am meisten lieben. Und das sind nicht wir“, analysiert Michael Schütz als Professor Calguès. Der Staat sendet zwar Soldaten aus, um die anlandenden Flüchtlinge zu töten, und der französische Staatspräsident hält eine Radioansprache, um den Soldaten Mut zu machen für ihren grauenvollen Auftrag – doch dann bricht er ab und erklärt die Entscheidung zu töten zur individuellen Gewissensfrage des Einzelnen. Daniel Christensen gibt den ultranationalistisch denkenden Kapitän eines Kriegsschiffes, das ausgesandt, wird, um die Flüchtlingsflotte zu versenken. Wie Raspail träumt er von historischen militärischen Erfolgen des christlichen Abendlandes wie der Schlacht von Lepanto, die auf muslimisch-osmanischer Seite zur verlustreichsten Seeschlacht der Geschichte wurde. Doch seine Soldaten, die das Elend der Flüchtlinge erkennen, meutern und verweigern den Schießbefehl. Der Kapitän delektiert sich derweil am Anblick des nackten Hinterteils einer schönen Flüchtlingsfrau…

Anderenorts fühlen sich die Underdogs der Gesellschaft ermutigt, gegen die Macht der Bourgeoisie aufzustehen. Es kommt zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Studenten demonstrieren für die Etablierung eines sozialistischen Systems – ein lachender General lässt die Demonstranten von Panzern überrollen. Professor Calguès ist nicht geflohen. Er versammelt seine Gesinnungsgenossen noch einmal um den Tisch, an dem während der gesamten Dauer der Aufführung opulent gespeist wird: „Die Festung steht.“ Gewehre werden geholt. Edith Piaf singt ihr „Je ne regrette rien…“. Suizidgedanken stehen einen Moment im Raum. Dann schießen die Männer auf die Migranten, die die Festung Europa bedrohen.

Diese letzte Szene hat etwas von Elfriede Jelineks Rechnitz – keiner Dystopie, sondern einer Vergangenheitsbewältigung aus den letzten Tagen des 2. Weltkriegs: Als die Russen anrücken, lässt die Gräfin Batthyani beim Abschiedsbankett in ihrem burgenländischen Schloss auf jüdische Zwangsarbeiter schießen. Die gesamte Szenerie der Übernahme der Macht durch eine fremde Kultur erinnert an Michel Houellebecqs Roman Unterwerfung, der wohl tatsächlich von Raspails Text angeregt wurde. Rechnitz und Unterwerfung sind literarische Texte, die weit nach dem Heerlager der Heiligen entstanden sind. Raspail beschreibt eine Dystopie, die in ihrer Konsequenz härter ist als die von Houellebecq, und er beschreibt sie mit empörend rassistischen Untertönen. Und doch enthält Raspails Analyse erschreckende Wahrheiten. Ist das überhaupt noch eine Dystopie, die auf der Recklinghäuser Bühne entworfen wird? Wie nahe sind wir der Realisierung dieser Dystopie eigentlich heute schon? In fünfzig Jahren, so prognostizieren viele Wissenschaftler, haben die People of Colour längst die Majorität in der westeuropäischen Bevölkerung. Was heißt das für unsere Kultur, für unseren Lebensstil?

Es ist mutig von der Frankfurter Regie, für ihre Aufführung nahezu ausschließlich auf Original-Text von Raspail zurückzugreifen. Ein Text des linksliberalen Soziologen Stefan Lessenich, ein kurzes Zitat von Heiner Müller („Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich leben kann in meiner Scheiße“) und die Einspielung einer im Kontext der Aufführung durchaus ambivalenten Aussage von Helmut Schmidt sind die einzigen Ausnahmen. Schmidt-Rahmer vertraut auf seine Zuschauer, die die Ambivalenzen von Raspails Text spüren, die erschrocken Übereinstimmungen ihrer eigenen Gedanken mit Aussagen Raspails wahrnehmen und gleichzeitig die empörende Philosophie, die hinter dem Roman steckt, erkennen. Die Zuschauer sind permanent gefordert, eigene Haltungen zu dem Gesagten zu entwickeln. Da die Inszenierung kaum auf Dialoge setzt und die massiven Kürzungen des Texts sowie die Doppelbesetzung vieler Rollen nicht immer zur Klarheit beiträgt, wird vom Publikum eine permanente Denkarbeit gefordert.

Die Gefahr einer Identifizierung mit Raspails Gedankengut erscheint dennoch gering. Die Bilder, wie sich eine saturierte Untergangsgesellschaft an einem luxuriösen Mahl gütlich tut, während auf dem Meer die Flüchtlinge verrecken und auf den Straßen die Studenten vom Panzer überrollt werden, sprechen eine deutliche Sprache. Auch der mit Eiche brutal und einschüchterndem Kaminsims möblierte Raum, in dem sich Calguès und seine Getreuen verbunkern, wirkt eher gespenstisch als einladend. Und doch kann man sich dem Charme der bürgerlichen Wohlfühlgesellschaft kaum entziehen, die Professor Calguès beschreibt und die er auch mit Waffengewalt zu verteidigen bereit ist.

So gehen wir denn auf eine nicht immer angenehme Erkundungsreise zu unseren eigenen politischen Handlungsweisen und Einstellungen. Durchaus zu Recht wirft Raspail der heutigen Gesellschaft vor, dass sie den Wunsch zur moralischen Integrität hat, ohne die hieraus resultierenden Konsequenzen tragen zu wollen. Und was machen wir jetzt daraus? Ratlosigkeit macht sich breit – und die Erkenntnis, dass wir das eine oder andere unserer politischen Urteile noch einmal überprüfen sollten. Nicht das schlechteste Ergebnis nach dem Konsum eines inhaltlich so ambivalenten Stoffs.