Übrigens …

House of Horror im Bonn, Theater

Der Horror der Frauenrolle

Zeus wollte Rache, wie so oft. Diesmal war es Prometheus, der seinen Unwillen erregte: Der Junge hatte ihm das Feuer geklaut. Also bekam Hephaistos den Auftrag, das Scheinbild einer schönen Jungfrau zu schmieden. Aus Lehm gebrannt, von den Göttern mit allen guten Gaben beschenkt, die man sich als Frau alter Schule wünschte (also Schönheit, Liebreiz, musikalisches Talent, verführerische Sprache and what have you), entstand eine Holde, der wir Macho-Männer heute noch zu Füßen liegen würden. Doch aufgepasst: „Er nannte das Mägdlein Pandora.“ Pandora? Ja, das war die Peggy mit der Büchse, in der sich alle Plagen dieser Welt verbargen. Pandora öffnete den Deckel: „So brachte die Frau das Unglück über die Menschheit.“

Christine Lang und Volker Lösch haben am Theater Bonn, an dem die vom Unterzeichner ob der Qualität ihres Spielplans geschätzte, aber von männerdominierten Gremien hinausgeekelte Ex-Intendantin Nicola Bramkamp vor zwei Jahren die Konferenz „Burning Issues“ zur Gender-Diskriminierung im Theater ins Leben gerufen hat, einen Abend zu #MeToo im Theater gestaltet. Dass der mit einem so wunderschönen Prolog beginnt, ist vielversprechend. Lange glaubt man, dem in seinen Inszenierungen manchmal etwas verbissen daherkommenden Lösch könnte trotz einiger feministischer Allgemeinplätze der humorvollste und selbstironischste Abend seit langem gelungen sein.

Der Abend beginnt spritzig: mit Rückblicken auf eine fiktionale Schauspielschulzeit und auf die Dramengeschichte. Annika Schilling hält als Schauspielschul-Chefin eine Rede voller Klischees an ihre Absolventen: „The stage is yours!“ Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine einschüchternd große XXXL-Casting Couch, deren Design den Muff mancher vergangener Theater-Jahrhunderte atmet. Die sieben großartigen Bonner Schauspieler(innen) produzieren sich abwechselnd als Kandidaten und Theaterleiter beim Intendanten-Vorsprechen und verkörpern die großen Frauenrollen der Weltliteratur hübsch amateurish. Da gibt Annika Schilling die Ophelia, und Daniel Breitfelder putzt sie als „Kampf-Lesbe“ herunter, da spielt Birte Schrein das schluchzende Gretchen wie eine - sorry: früher hätte man gesagt: Reichswasserleiche, Sandrine Zenners Emilia Galotti ist der Vorsprech-Instanz Birte Schrein nicht brutal genug, und zu Schillings Lulu fällt Daniel Stock nur ein: „Du bist ja steif wie’n Besen - wo bleibt die Erotik?“.

Lulu ohne Erotik? - Aber es geht natürlich um etwas ganz anderes: Wieweit muss eine Schauspielerin in ihrer Darstellung altmodischen Männerphantasien genügen? Inwieweit mangelt es im Theater und im richtigen Leben durch genderspezifisches Verhalten an Respekt für die Würde der Frau? Die Nöte der Schauspielerinnen mit der fehlenden Erotik bringt Lydia Stäubli subtil und berührend auf den Punkt: „Ich zieh auch noch was aus“, sagt sie unaufgefordert, aber scheu - und die Frau mit hochgeschlossener Bluse entledigt sich ihrer Schuhe. Engagiert wird von all den vielversprechenden Kandidat(inn)en am Ende nur die junge, hübsche Sandrine Zenner, der Daniel Breitfelder gemeinsam mit der Job-Offerte noch ein zweites Angebot macht: Er legt ihr jovial die Hand auf den Oberschenkel.

Soweit ist die Inszenierung eine witzige, amüsante, gelungene Satire. Natürlich haben wir alle begriffen, dass die Szenen viel von der Realität im Theater wiedergeben. Ein wenig Nachdenken bringt uns zu der Erkenntnis, welche Gemeinsamkeiten Lulu, Ophelia, Gretchen und Emilia Galotti haben: In der einen oder anderen Form sind sie alle Sex-Objekte einer dominanten, machtbewussten Männerwelt. Andererseits: Lulu ohne Erotik ist irgendwie Käse. Nicht ganz vergessen sollte man allerdings, dass Michael Thalheimer einst auf überzeugende Weise eine andere Auslegung der Rolle Lulus vertrat: In seiner Inszenierung am Thalia Theater Hamburg aus dem Jahre 2004 waren die armseligen alten Männer nichts als Puppets on the String einer verführerischen Sexy Hexy, die die Hosen anbehielt, die den Männern schnell um die Knie baumelten.

Von Jack the Ripper umgebracht wurde Thalheimers Lulu trotzdem. Machtmissbrauch und Sexismus liegen oft so nahe. Lösch demonstriert das am Beispiel der Vergewaltigungsszene aus „Titus Andronicus“. Lydia Stäubli übernimmt die Rolle der Lavinia und beschwert sich, dass die recht brutal gespielte Vergewaltigung tatsächlich körperliche Schmerzen verursacht. Die Reaktionen der Theaterkollegen schwanken zwischen Zynismus („Augen auf bei der Berufswahl“) und Karrieregeilheit: Schnell ist eine Kollegin gefunden, die sich als Ersatz für Stäubli aufdrängt und zur bedingungslosen sexuellen Unterwerfung bereit ist. Sowohl die Schauspieler als auch das Publikum reagieren nachdenklich, denn an den beiden Argumentationslinien ist ja was dran: Muss sich eine Schauspielerin ständig an die Brüste grapschen lassen? Und: Vergewaltigen wir ein zweites Mal, wenn die entsprechenden Szenen zu zurückhaltend gespielt werden, weil damit auch der sexuelle Übergriff verharmlost wird?

Soweit, so durchaus differenziert. Lösch und seine Co-Autorin und Dramaturgin Christina Lang ziehen eine zweite und dritte Ebene in ihr Stück ein. Die zweite ist ein wenig klamaukiger: Die Godesberger Kammerspiele werden zum echten „House of Horror“. Die Inszenierung spielt mit Motiven des Horrorfilms. Im Keller der Kammerspiele treffen die Schauspielerinnen auf ihr Ebenbild als weibliche Bühnenfiguren, denen im Theaterstück Böses widerfährt oder die selbst Böses tun, weil ihre Rolle eine Hexe ist: Erneut Lulu und Emilia Galotti, Stella und Medea tauchen auf; die bereits erwähnte Lavinia-Szene wird mehrfach durchexerziert. Wir sehen per Video Bertolt Brecht auf dem Sofa liegend, während seine diversen Frauen seine Welterfolge schreiben: „Wenig Arbeit, Sex und Spiel / Frauen, das ist Bertolts Stil“. Dieter Wedel, der seine Schauspielerinnen sexuell unter Druck setzte, Catherine Deneuve, die kühle Schöne, die die begehrenden Blicke der Männer genoss, und Maria Schneider, die von den Dreharbeiten zum „Letzten Tango“ bis an ihr Lebensende traumatisiert war, werden angegriffen, durch den Kakao gezogen oder als Zeugen einer systemimmanenten sexuellen Unterdrückung der Frau aufgerufen. Man hat den Eindruck, dass alles, was dem Leitungs-Team und den Schauspieler(inne)n an Last und Belästigung in den Kopf kam, den Weg auf die Bühne fand. Und leider wird es jetzt auch laut und allzu schrill.

Wir wissen, dass Volker Lösch einer der fleißigsten Stückeschreiber und Regisseure in der deutschen Theaterlandschaft ist. Befragungen von Laien, also Experten des Alltags gehören zum Standard bei der Inszenierung seiner Stücke; auch hier ist dies die dritte Ebene der Inszenierung. Tausende von Seiten der Antworten auf seine Interviews kritzelt er zusammen, um anschließend massiv zu kürzen und das Ganze theaterkompatibel zu machen. Diesmal hat er zu wenig gekürzt. „Sollen wir etwa Kataloge anlegen mit den Demütigungen, die Frauen in der Literatur widerfahren sind?“, lässt er in der Aufführung provokativ fragen. Er weiß, dass das die dramatische Wucht des Abends schmälert - und dennoch ist es genau das, was Lösch tut: Nichts lässt er aus, was jemals in der Literatur, im Theater oder im richtigen Leben einer Frau an Gewalt angetan wurde - sei es psychisch, metaphorisch oder sexuell. Die Inszenierung, die so vielversprechend und unterhaltsam begonnen hatte, rutscht ab in die Agitprop. Am schlimmsten wird es, wenn die Lösch-typischen tapferen Laien-Chöre zum Einsatz kommen, an diesem Abend sechs junge Frauen, die eigene Erfahrungen und die Interview-Ergebnisse zu Gehör bringen. Sie machen das schauspielerisch exzellent, und was sie an Diskriminierungen, Belästigungen und strafbaren Handlungen aufzuzählen wissen, denen sich Frauen ausgesetzt sehen, ist schlimm. Bloß: Neu ist es nicht. Überraschendes wie in der ersten halben Stunde erleben wir nicht mehr. Stattdessen krakeelen etwas zu aufgedrehte Akteure eine scheinbar aus Presse, Funk und Fernsehen zusammengeklaubte Stoffsammlung von der Rampe.

Der Abend endet mit einer von den Schauspieler(inne)n und Laien gemeinsam ins Parkett gebrüllten Utopie und einem Forderungskatalog. Roswitha von Gandersheim will man im Theater sehen statt Goethe und Schiller, Luise Rinser auch (ach je, die Frau, deren größtes Verdienst darin lag, sich vom nationalsozialistischen Extremismus ihrer Jugend unter Umgehung der politischen Mitte zum linksradikalen Alters-Extremismus bewegt zu haben!). Soweit wie möglich will man alle geschlechtsspezifischen Unterschiede abschaffen. - Es könnte ein bisschen langweilig werden, wenn die Lulus der nächsten Generation nicht mehr mit ihrer Erotik spielen dürfen und James-Bond-Typen Disko-Verbot kriegen. Aber dem Rezensenten ist es dann egal, und das Theater wird so oder so weiterleben.