Die afrikanische Tragödie ist zu einer Tradition geworden
Schwarz - Gelb - Rot: Das sind die belgischen Nationalfarben. Luk Perceval, langjähriger Leitender Regisseur am Hamburger Thalia Theater, entwickelt mit The Sorrows of Belgium am NT Gent eine Trilogie, die sich mit Perioden respektive Episoden der nationalen Schande seines Heimat- und Geburtslandes beschäftigen. Die einzelnen Teile der Trilogie sind mit den belgischen Nationalfarben betitelt: Black, Yellow and Red. Black feierte im März 2019 seine Uraufführung und beschäftigt sich mit der belgischen Kolonialgeschichte im Kongo, die nicht weniger grausam war als die der Deutschen in Südwestafrika. Im April 2020 wird Teil 2 zur Premiere kommen: Yellow. The Sorrows of Belgium II: Rex wird sich mit der Kollaboration der Belgier mit der deutschen Besatzung im 2. Weltkrieg befassen – theater:pur wird berichten. Teil 3 schließlich, Red, hat die blutigen terroristischen Anschläge durch Islamisten in Brüssel zum Thema und ist für die Spielzeit 2020/21 geplant.
Gut zwei Monate nach der belgischen Premiere gastierte der erste Teil der Trilogie im Schauspiel Köln, das sich in Nuran Calis‘ Dokumentartheater-Projekt Herero_Nama gerade mit den Gräueln der deutschen Kolonialherrschaft beschäftigt hat. Auch Perceval nimmt einen mehr oder weniger dokumentarischen Bericht zur Grundlage einer dann allerdings künstlerisch sehr freien Beschäftigung mit seinem Thema. Gemeinsam mit seinem Reisegefährten Sam Lapsley brach der Afroamerikaner William Henry Sheppard im Februar 1890 im Auftrag der Presbyterianischen Kirche zu einer Missionsreise in den Kongo auf. Während Lapsley den physischen Anstrengungen der Reise nicht gewachsen war, blieb Sheppard viele Jahre lang im Land und erlebte die phantastischsten Abenteuer. Vor allem aber wurde er live mit der grauenerregenden Behandlung der Einheimischen durch die belgischen Kolonialherren konfrontiert. Nach seiner Rückkehr in die USA wurde er zu einem der ersten öffentlichen Kritiker der Kolonialpolitik König Leopolds II.. Seine Reisetagebücher schmückte er mit den wildesten und phantasievollsten Details aus, um den Berichten die erforderliche Durchschlagskraft zu verleihen. In den USA sorgten seine Vorträge für eine kulturelle Revolution: Damit sie Sheppards empörenden Berichten folgen konnten, wurden erstmals auch Schwarze zu öffentlichen kulturellen Veranstaltungen zugelassen.
Unter König Leopold II., dem der Freistaat Kongo im Jahre 1885 durch ein Dekret des belgischen Parlaments als Privatbesitz (!) überschrieben wurde, wurde das afrikanische Land in ein gigantisches koloniales Konzentrationslager verwandelt. Die einheimische Bevölkerung des Landes reduzierte sich durch Mord, aus nichtigem Anlass verhängte Todesstrafen und skrupellose Quälerei um geschätzte zehn Millionen Menschen. Doch während die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit in Deutschland gerade Konjunktur hat, ist nach Auffassung von Perceval das Bewusstsein für das von den Kolonialherren begangene Unrecht in Belgien kaum ausgeprägt. Möglicherweise ist es die – tatsächliche oder vom Regisseur unterstellte – Unkenntnis des belgischen Publikums über die dargestellten Fakten, die dazu geführt hat, dass Perceval seine Inszenierung für deutsche Augen und Ohren irritierend unterhaltsam und klischeehaft gestaltet hat. Über weite Strecken rückt er den Abend gar in die Nähe eines Musicals. Gospel Songs und afrikanische Tänze unterhalten; mache scheinbar oberflächlichen Reaktion der Figuren verstören aus Gründen des (in Deutschland fraglos überzogenen) Bedürfnisses nach political correctness. Die Geschichte der Kolonialisierung, beginnend mit dem ersten weißen Einwanderer im 17. Jahrhundert, wird tanzend und trommelnd folkloristisch dargeboten, ohne dass die talentierten Sängerinnen und Sänger respektive Tänzerinnen und Tänzer ihr Publikum zu packen vermögen. Im Gegenteil: Man stört sich daran, dass die ernsthaften Themen des Abends scheinbar kritiklos in eine Show verpackt werden. Allerdings - wir haben es bereits erwähnt – strotzt auch William Henry Sheppards Tagebuch-Bericht von abenteuerlichen folkloristischen Beschreibungen des afrikanischen Stammeslebens, und an diesem Bericht hat Perceval sich orientiert.
Selbstverständlich ist Percevals Inszenierung alles andere als kritiklos gemeint. Der Politik geht es nicht um die Bekehrung der Einheimischen zum Christentum, sondern um die Ausbeutung der Bodenschätze des Landes (Coltan, Eisen, Kupfer, Gold und Silber) sowie um den Raub von Elfenbein. Die grauenvolle Behandlung der Einheimischen durch die Kolonialherren wird in vielen, oft etwas isoliert wirkenden Szenen angesprochen: die erbarmungslose Züchtigung mit Seilen und Stricken (Lastenträger werden wie früher die Zugtiere angetrieben), die sexuelle Unterwerfung der einheimischen Frauen (als die Figur der Andie Dushime sich weigert, den Eroberern sexuell zu Diensten zu sein, wird ihr ein Fuß abgeschnitten), Massaker, auf deren Spuren Sheppard beim Fund von Hunderten enthaupteter Körper oder von Bergen abgehackter Beine stößt, die moralische Erosion der Kirche. Es sind in weiten Teilen die Motive von Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“, die auch in dieser Aufführung auftauchen – nur hat sie Conrad nachhaltiger, schockierender beschrieben, und die musikalische Verpackung verharmlost die Szenen manchmal. Gewollt ist wahrscheinlich etwas anderes: Einmal werden die Verbrechen und Vergewaltigungen in zartem, fröhlichem Ton geschildert, und dazu spielt die Musik von Sam Gysel geheimnisvoll-romantische Urwaldgeräusche ein, die die Kulisse aus vom Schnürboden herunterhängenden, den Wald versinnbildlichen Seilen auf schwarzer Bühne zu einer dunkel lockenden Welt macht. Zu selten gelingen der Inszenierung solche Momente, in denen der Kontrast zwischen der Erzählung und der vom Soundtrack geschaffenen Atmosphäre verstört.
Immer wieder gibt es Szenen, in denen die Aufführung rassistische Verhaltensweisen anprangert. Das beginnt schon „daheim“ in den USA: Als Sheppard in Richtung Kongo aufbricht, drückt ein US-Politiker selbstzufrieden seine Überzeugung aus, dass der afroamerikanische Missionar „der erste in einer Reihe von Schwarzen ist, die zurück nach Afrika gehen … Das ist gut so.“ Doch Sheppard, 1865 nur einen Monat nach der Abschaffung des Sklavenhandels geboren, darf nur in Begleitung eines Weißen reisen – ebenjenes Lapsley, der nicht nur in der Realität den Strapazen des Kongo nicht gewachsen war, sondern in Percevals Inszenierung auch schauspielerisch hinter dem souverän agierenden, seinem Anliegen Dringlichkeit verleihenden Nganji Mutiri zurücksteht. Wenn Peter Seynaeve den schwächlichen Weißen gibt, verrutscht ihm die Darstellung zunehmend in die Karikatur. Dagegen läuft sämtliche Kritik an dem Show-Charakter mancher Szenen ins Leere, wenn die quirlige Andie Dushime Kostproben ihres großartigen musikalischen und tänzerischen Talents geben darf.
Mit Zitaten aus der Literatur versucht Perceval seiner Inszenierung noch einmal Tiefe zu geben: „Hat nicht ein Schwarzer Augen“, wird Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ zitiert – und auch Sartre bekommt noch seinen Auftritt. Perceval versucht noch einmal die Kurve zu kratzen und formuliert einen eindringlichen Appell an die Zuschauer. Das Licht im Parkett geht an, und Nganji Mutiri und Aminata Demba rufen zu einer Überprüfung unseres Denkens und Handelns auf. Das soll wohl erinnern an die Vorträge, die Sheppard später in Turnhallen und Gemeindesälen in den USA gegen Leopolds Kolonialpolitik gehalten hat. Afrika, so hatte es vorher schon einmal geheißen, habe heute noch nicht die Unabhängigkeit, die es verdiene: „Die Tragödie ist zu einer Tradition geworden.“ Jetzt zitiert Mutiri stattdessen Sartre: „L’enfer, c’est les autres.“ Aber er ist optimistischer als der französische Existenzialist: „L’identité plurielle, j’y crois!“ Dem schließen wir uns an, auch wenn wir den mesures plurielles, zu denen Perceval in seiner Inszenierung gegriffen hat (Vortrag, direkte Ansprache des Publikums, Musik und Tanz sowie nur in kleinen Schnipseln bewegende Spielszenen) nicht ganz über den Weg trauen.