Warum? - Warum nicht!
Ein Metallgitter, etwa 6 mal 6 Meter, bildet die Bühne, im Hintergrund eine gleichgroße weiße Projektionswand, das Ganze von dreizehn Leuchtröhren von oben angestrahlt.
Beim Einlass spielen schon fünf Figuren auf dem Gitter Boule - drei Männer, zwei Frauen auf hohen Plateausohlen - alle mit bizarren Gummimasken über dem Kopf. Monotoner Beat aus dem Off wird bei jedem Aufprall der glitzernden Stahlkugeln auf dem Gitter durch einen lauten Knall unterbrochen. Es dauert eine Weile, bis auf der Rückwand drei Orte eingeblendet werden: Port St. Lucie Florida, Isparta, Türkei und Dinslaken, Deutschland. (Da rückt uns ein Teil des Geschehens geographisch ganz nahe!) Es sind die drei Plätze, an denen sich die realen Verbrechen verorten lassen, die im Zentrum der poetischen Kartographie unserer verrohten Welt stehen, wie sie die Autorin Enis Macis entwirft.
„Es tritt auf“, beginnt der erste Erzähler - jetzt ohne Maske - und es tritt auf der Teenager Tyler Hadley aus der amerikanischen Kleinstadt Port St. Lucie, der seine Eltern mit dem Hammer erschlug und anschließend seine Whats-App-Gruppe zur Orgie ins Elternhaus einlud. Die Tat war im Internet angekündigt und so gab es von Anfang an „Mitwisser“, wenn nicht gar Einflüsterer. Sie werden befragt, eine Mitschuld steht im Raum, bleibt jedoch unbeantwortet. Auch auf die Frage nach dem Motiv gibt es keine Antwort. Der Vater stellte sie dem Täter im Angesicht des Todes „Warum?“, „Warum zum Teufel nicht? - Why the fuck not?“ ist die lapidare Antwort des Vatermörders. Auf der Bühne entspinnt sich vorübergehend ein Dialog, Steffen Link schlüpft in die Rolle des Täters, gibt sie beängstigend intensiv, schwankt zwischen irrsinniger Euphorie und Betroffenheit, stellt sich selbst die Frage nach Strafe und Hölle - das alles sind Texte, die die Autorin dem Internet entnahm, das in den USA auch die privaten Chats freigibt.
Dann springt das Geschehen ins türkische Isparta, wo die 26-jährige Nevin Yildirim, verheiratet und Mutter zweier Kinder, ihrem mehrfachen Vergewaltiger den Kopf abschneidet und das Corpus Delicti auf den Dorfplatz wirft. Auch hier geht es weniger um die Täterin als um die Reaktion der Dorfgemeinschaft, um die vom Richter, Ankläger und Verteidiger vorgebrachten und bewerteten Umstände, die die Frau schließlich im Gefängnis landen lassen. Ungerührt schlüpft die Schauspielerin Elli Epply jetzt in die Rolle der Beklagten, die in stoischer Würde - in silbern-glitzernder Robe einer Königin der Nacht oder gar einer Frau aus archaischen Mythen - das Geschehen verfolgt. Dazu stellt der Chor der übrigen Schauspieler die Frage, ob es nicht das zugrundeliegende Ökosystem der Mitwisser ist, das den Humus aller Gewalttaten bildet.
Im dritten Fall muss sich der Dinslakener Nils Donath vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht dafür verantworten, als Terrorist des IS Menschen gequält und gefoltert zu haben.
Jedes dieser Ereignisse gäbe zweifellos Stoff für eine Bühnenaufführung. Enis Maci aber verwebt die realen Geschehnisse miteinander und verflicht sie noch mit antiken Mythen und politischen Alltagsgeschehnissen: Da werden Orest und Klytämnestra aufgerufen, ebenso die Sirenen, das Orakel von Delphi und Pythia, Shakespeare und Marx, die Rechtsradikalen (die mit einer überflüssigen Strafpredigt bedacht werden), Hooligans (in ihrem trivialen Gruppen-Slang), Großväter und jede Menge Kartographen. Die meisten dieser Themen werden nur gestreift, „Mitwisser“ gibt es da nicht mehr. Vielleicht aber sind wir alle die Mitwisser, alle die durch die globale digitale Vernetzung von all dem „wissen“. Zweifellos stellt sich damit zugleich die Frage nach einer Mit-Verantwortung. Doch darum geht es Enis Maci wohl nicht, vielmehr jettet sie durch das Themenkonglomerat, verlinkt die Fakten und Geschichten, als säße sie tatsächlich am PC. Zweifellos führt sie vor, wie das Medium Internet auf intelligente Weise für das Theater innovativ werden kann. Am Ende des Stücks gibt sie als Quellen zweiunddreißig Links an, verweist jedoch humorig darauf, dass „die Offenlegung der Quellen noch lange nicht die Offenlegung der Geheimnisse“ bedeutet. Ein Geheimnis bleibt mir allerdings auch die Regie-Idee, am Ende alle Figuren in beiger Unterwäsche mit roboterhaften Bewegungen und blinden Augen einen Endlos-Tanz aufführen zu lassen. Blindheit könnte an Ödipus erinnern, vielleicht auch an die heilige Lucie, Stadtpatronin von St. Lucie, die der Legende nach geblendet wurde und auf Abbildungen stets eine Schale mit ihren Augäpfeln trägt. (All das kann man im Internet finden.) Die Litanei, die dabei abgespult wird, vermag ich allerdings nicht mit dem Stück zu verlinken. Auch das Boule-Spiel am Anfang ist wohl nichts als ein Knall-Effekt.