In Neuss und auf der Heide
Es gibt Augenblicke, in denen Natur und Kunst ineinander zu fließen scheinen: Es wird ungewöhnlich dunkel in Neuss, der zwölfeckige „Globe“-Theater-Nachbau auf der Galopp-Rennbahn erscheint wie ein Phantom. König Lear in der Regie von Bernd Freytag steht auf dem Programm. Es ist die dritte von insgesamt 15 Inszenierungen aus aller Welt beim 29. Shakespeare-Festival am Rhein.
Kaum sitzen die annähernd fünfhundert Theaterbesucher im Zwölfeck auf ihren recht bescheidenen Bänken, kaum hat die Inszenierung der „bremer shakespeare company“ Fahrt aufgenommen, blitzt und donnert es aus dem Dunkel über dem Bau am Rhein. So ganz passt das noch nicht ins Bild: Ist das Grollen der Natur nun Teil der Inszenierung oder „echte“ Naturgewalt? Natürlich Natur, für das Stück und seine Aufführung freilich zu früh. Erlebt der entrechtete und irrlichternde König, irre geworden an der realen Welt, doch erst einige Zeit später den Gewittersturm über der Heide - seiner Einsamkeit. In Neuss passt das freilich alles ins fantastische Bild, das seit nun fast drei Jahrzehnten das Publikum des Festivals auf der Galopprennbahn am Rhein fasziniert.
Blitze, Donnergrollen, Einschläge: Shakespeares Lear, alles andere als ein weiser Mann, versteht die Welt nicht mehr, als seine Lieblingstochter Cordelia (Theresa Rose) auf die Frage an sie und ihre beiden Schwestern, wer von ihnen ihn am meisten liebt, zurückhaltend, ja geradezu reserviert wirkt. Während Goneril (Svea Meiken Auerbach) und Regan (Petra-Janina Schultz) dem Noch-König geradezu aufdringlich und penetrant Honig ins Ohr träufeln, zieht sich die, die ihn wirklich liebt, mit dem Satz zurück: „Ich lieb‘ euch, wie’s meine Pflicht geziemt“.
Kein Wunder, dass der eh schon erkennbar an leichter Demenz Erkrankte in sein Verhängnis läuft: Goneril und Regan, an der Seite von auch nicht gerade adlig erscheinenden Gentlemen, lassen Papa ins Leere laufen. Sie bieten ihm, der des Regierens leid ist und sie zu seinen Nachfolgerinnen eingesetzt hat, ohne dass er selbst auf die Königswürde verzichten will, zeitlich wechselndes Gastrecht in ihren Schlössern an. Hin- und hergerissen von deren sich steigerndem unwürdigen Verhaltens ihm gegenüber, irrt der schließlich über die gewitterumtoste Heide. Da ist der „echte" Gewittersturm vom Rhein freilich längst abgezogen.
Die Einsamkeit gibt ihm den Rest. Doch am Ende trägt er, an der Seite seiner ihm zugeneigten Cordelia thronend, der eigentlich bereits Toten, die Krone auf dem Haupt, Zepter und Apfel in den Händen. Hat er nichts gelernt aus seinem selbstverschuldeten Elend? Sieht er nicht, blind wie der ihm schicksalhaft verbundene Graf Gloucester, dass die Welt wahrlich eine Hölle ist? Eine Hölle, in der siegt, wer am skrupellosesten agiert? Da ist es auch kein Trost, dass am Ende alle anderen bereits ins Jenseits gegangen sind: Hinter und neben dem Standbild von Vater und Tochter liegen sie erschlagen oder vergiftet am Boden.
Es ist ein faszinierender und packender Theaterabend, an dem der bislang noch nicht erwähnte Narr, dem Tobias Dürr grandiose Geschmeidigkeit, Gedankenschärfe und Bosheiten verleiht, der einzige ist, der die Welt und die Gemeinheiten der Menschen durchschaut. Mit und neben ihm ist Erik Roßbanders Lear von Beginn an der große Verlierer. Nicht nur verliert er rasch seine Beinkleider und äußerliche Würde. Dass er sich blenden lässt von den verlogenen Worten seiner ältesten Töchter, lässt sich nur mit Überheblichkeit und Mangel an Realitätssinn begründen. Zu spät erkennt er die Ränkespiele und Falschheiten, während Peter Lüchingers Graf Gloucester erst klar sieht, welcher seiner beiden Söhne es ehrlich mit ihm meint und wer der falsche Hund ist, nachdem er geblendet ist.
Großer, langer und verdienter Applaus nach 2 1/4 Stunden kurzweiligen Theaters.