Saftige Satire trocken präsentiert
Früher nannte man so etwas Wellensalat: Es klingt, als drehe jemand am Regler von Opas altem Dampfradio und hole zwischen Knistern und Rauschen verschiedene Sender rein. Politische Sender zumeist: Im allgemeinen Grundrauschen der politischen Medien vernehmen wir neben wenige Wochen oder Jahre alten Tagesnachrichten u. a. die Stimmen von Angela Merkel, Christian Lindner und – „Wir werden sie jagen!“ – Alexander Gauland. Alles Schaumschläger? Das könnte man denken, wenn man die Bühne von Manuel La Casta betrachtet, auf der die Schauspieler bald knietief im weißen Badeschaum herumtollen.
Doch Merkel als Schaumschlägerin – das passt irgendwie nicht. Und: Die Kanzlerin, Gauland und Lindner bieten - was immer man von ihnen halten mag - immerhin unterschiedliche politische Perspektiven mit klar voneinander unterscheidbarem Kern, auch wenn manch frustrierter Protestwähler und Journalist dies im Hinblick auf die Parteien der Mitte abstreitet. Auf der Bühne der Ruhrfestspiele Recklinghausen tauchen zunächst einmal vier Schauspielerinnen und Schauspieler auf und schwenken Fähnchen: „Wir interessieren uns für alternative Wirklichkeiten“, konstatiert Julia Windischbauer. Wenn sie über eine ausreichende Faktenbasis verfügten, könnten sie Interpretationsspielräume suchen und Optionsräume skizzieren. Wir gucken ein wenig ratlos: Fakten zu sammeln und zu analysieren, Interpretationsmöglichkeiten zu diskutieren und Handlungsoptionen zu skizzieren, ist ja eigentlich ein durchaus sinnvolles Vorgehen in Politik und Wirtschaft. Alles paletti also. Doch irgendwie klingt das alles auch nach Fake News und fragwürdigen Populismus-Strategien. Nach diesen Eingangsszenen sind wir mächtig gespannt, was die Inszenierung zu dieser Ambivalenz zu sagen hat.
Eineinhalb Stunden später ist der Theaterabend zu Ende. Die Ambivalenz wurde nicht aufgehoben, und eine Haltung, der sich der Zuschauer bequem anschließen kann, hat die Inszenierung nicht entwickelt. Victor, die Hauptfigur in Alexander Schimmelbuschs Roman Hochdeutschland, den Kevin Barz in Vertretung des „aus persönlichen Gründen“ von der Regie zurückgetretenen Christopher Rüping an den Münchner Kammerspielen inszeniert hat, hat aus seinen ambivalenten Gefühlen zu Armut, Reichtum, Mensch und Tier im turbokapitalistischen Deutschland immerhin die eine oder andere Handlungsoption entwickelt und umgesetzt. Recht glücklich ist damit aber niemand geworden – die Gesellschaft nicht, für die Victor seine Utopie entwickelt hat, und der Zuschauer in Recklinghausen auch nicht. Hat der Populismus, den Victor mit dem Versuch der Einführung eines sozialistischen Systems für High Networth Individuals betreibt, eigentlich eine gefährliche, vielleicht gar ausgrenzende Seite? Kann Victors Utopie vielleicht sogar zum Paradies auf Erden weiterentwickelt werden? Kann die neue Gesellschaftsordnung die Fremdenfeindlichkeit und Abschottungsstrategie der Rechten und die für die Armutsbekämpfung kontraproduktive Wirtschaftsfeindlichkeit und Enteignungsphantasie der Linken in die Schranken weisen? All das bleibt offen – im Roman wie in der Inszenierung. Klar scheint nur: Die Maximierung des Bruttosozialglücks ist immer noch nicht gelungen.
Doch sollten wir erst einmal erzählen, worum es überhaupt geht – schon damit tut sich Kevin Barz‘ Inszenierung leider schwer. Victor ist – wie sein Schöpfer Alexander Schimmelbusch – gewesener Investment Banker. Im Adlon bestellt er sich eine Peking-Ente für zwei Personen und eine Flasche Wein für € 2.400,00 und wird nicht nur der Ente und des Weins überdrüssig. Er realisiert, in welcher Welt er lebt: Die Bankenmetropole Frankfurt ist zur Stadt der Stricher und Bombenleger geworden, die Deregulierung der Finanzmärkte hat eine beachtlich große Klasse von Angestellten geschaffen, deren Jahres-Einkommen die Grenze von einer Million Euro übersteigt, und der Minister, der unbedingt einmal Ferrari fahren möchte, bietet sich der Bank als Amigo an, um seine Spitzenbeamten-Karriere mit schandhaft geringen Diäten gegen einen lukrativen, wenn auch dilettantisch ausgeübten Management-Job zu tauschen. Sie lachen und halten das für übertrieben? Als Ex-Banker sagt Ihnen der Rezensent: Es ist disgusting, wenn man erfährt, dass die eigenen Investment - Banker zur Feier eines extrem hohe upfront fees generierenden Deals den Weinkeller eines Sterne-Lokals leer trinken. Und die anderen Sachen stimmen auch. Wir interpretieren den Badeschaum daher um: Wahrscheinlich steht er für das sinnfreie Schickimicki-Leben in der Schaum-Disko.
Der denglische Banker-Sprech ist natürlich ebenfalls authentisch, aber zu dem kommen wir später. Doch zuerst zu Victor: Mit all dem aufgepimpten Investment Banker Vokabular nimmt er das Projekt der Einigung des Volkes in Angriff. Bei chinesischer Ente und italienischem Four-digit-Nobel-Wein gründet er (zunächst im Kopf, später mit Hilfe seines linksliberalen Politiker-Freundes Ali Osman) die Deutschland AG. GINA (die German Investment Authority) sorgt für Sozialismus auf hohem Niveau. Es heißt: Germany first, aber anders als beim tumben Trump: Die Exportwirtschaft muss zwar stärker wachsen, aber Globalisierungskritik wäre fehl am Platze. Vor allem muss größere Verteilungsgerechtigkeit hergestellt werden: In Victors Welt wird eine Vermögensobergrenze von 25 Millionen Euro eingeführt. Im Publikum gibt es höhnisches Lachen der Neider, die nur Fünfhunderttausend besitzen. Gegen Neid ist kein Kraut gewachsen, selbst wenn im Ergebnis alle profitieren: Die restlichen Vermögenswerte werden zwar verstaatlicht, aber GINA agiert wie ein professioneller Vermögensverwalter und sorgt für ein Ende der Klassengesellschaft und Wohlstand für alle: „Wir sind der weiße Ritter.“
Victors neue Bewegung belegt mit dem Politiker Ali Osman den zweiten Platz bei den nächsten Bundestagswahlen und kommt an die Macht, damit eine Regierungsbeteiligung der nationalistischen Populisten verhindert wird. Das erinnert an das Anfangs-Szenario aus Michel Houellebecqs „Unterwerfung“. Literaturkritiker dagegen fühlten sich bei der Charakterzeichnung des Victor an Gestalten wie Patrick Bateman aus Bret Easton Ellis‘ American Psycho erinnert. Auch Bateman spürt wohl, dass in dem System, für das er arbeitet und an dem er zum psychopathischen Mörder wird, etwas faul ist. Aber Victor, abgehoben und arrogant wie er sein mag, will etwas verbessern. Sein Konzept ist durchaus intelligent – ungefährlich ist es nicht, auch wenn Victors tödliches Ende ein eher grober parodistischer Klotz auf dem feingesponnenen satirischen Polit-Konstrukt ist…
Dass Victor fatal in die Nähe sowohl des Links- als auch des Rechtspopulismus gerät, dass er in dem neuen, von ihm selbst geschaffenen System letztendlich kaum weniger gelangweilt einem dekadenten Leben folgt als zuvor, deutet die Inszenierung von Kevin Barz an, wenn man ihr aufmerksam bis zum Ende folgt. Im Grunde gelingt es dieser letzten Inszenierung der Ruhrfestspiele 2019 im Kleinen Haus des Festspielhauses sogar, einen eleganten Bogen zu schlagen zur diesjährigen Auftakt-Inszenierung am gleichen Ort, Jean Raspails Das Heerlager der Heiligen vom Schauspiel Frankfurt (http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2019/05/recklinghausen-heerscharen.html). Doch anders als Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer aus Frankfurt gehen Kevin Barz und sein Münchner Team die spannende Polit- und Wirtschaftssatire einfallslos und mit untauglichen Mitteln an. Barz hat den Roman gekürzt und eine Reihe von Figuren gestrichen, doch er folgt in den Szenen, die er spielen lässt, weitgehend der Diktion der Vorlage. Der anspruchsvolle Text mit seinem ausgeprägten Wirtschafts-Sprech hat aber wenig dramatisches Potential. Da die Schauspieler in nahezu einheitlicher weißer Kleidung mehr mit ihren Schaumschlägereien beschäftigt sind als mit einer differenzierten Darstellung der verschiedenen von ihnen verkörperten Figuren, leidet die Verständlichkeit der Aufführung. Nur Zeynep Bozbay gelingt gelegentlich so etwas wie eine charismatische Rollengestaltung. Eine szenische Idee hat niemand, und ein stringentes inhaltliches Konzept auch nicht.
So bleiben der Witz und die Ironie des Textes von wenigen Ausnahmen abgesehen auf der Strecke, und es ist fraglich, ob alle Zuschauer die Doppelbödigkeit des Textes erkannt haben. Alexander Schimmelbuschs Roman macht spannende Angebote, doch das Regie-Team scheint so ratlos gewesen zu sein wie die Aufführung die Zuschauer hinterlässt.