Übrigens …

Medea.Stimmen im Apollo-Theater Siegen

Körperteile ragen als Menetekel aus dem Wasser

Walk on Water: Die Bühne ist geflutet. Und: „Die Stadt ist auf ein Verbrechen gegründet.“ Zweieinviertel Stunden lang waten, plantschen oder rutschen die Schauspieler in mehrere Zentimeter tiefem Wasser. Die Metapher mag man deuten wie man will - der Rezensent möchte sich nicht für die naheliegendste Deutung entscheiden, die wie folgt aussähe: Die „Medea“-Geschichte schließt an die Argonauten-Sage an, die auch in Christa Wolfs Umdeutung des Mythos ausführlich zitiert wird, und da waren Jason und Co. ja übers Mittelmeer geschippert, um das Goldene Vlies zu stehlen. Später steht Medea vor der Verbannung - zurück übers Meer. Wasser also zwischen Medeas Heimat und dem Ort, an dem sie nicht heimisch zu werden vermag. Und: Dort, in Korinth, steht ihr das Wasser bis zum Hals.

Stimmiger ist wohl ist eine andere Deutung: Das moralisch verderbte Korinth ist dem Untergang nahe. Und zwar spätestens seitdem die Stadt, wie Medea entdeckt hat, auf einem Verbrechen gegründet ist. Kreon hat seine eigene Tochter Iphinoe töten lassen, weil diese ihn selbst auf Betreiben seiner Frau Merope als Herrscher über die Stadt ablösen sollte. Auf Karoly Riszs Bühne ragen einmal die einzelnen Körperteile der Iphinoe-Puppe aus dem Wasser - ein erschütterndes Bild, und ein Menetekel für die Stadt. Für Iphinoes Schwester Glauke war die Tötung der Schwester durch den Vater eine traumatische Erfahrung. Sie verdrängt, was sie davon weiß, leidet aber infolge dessen an epileptischen Anfällen. Auch Medea ist krank: Zurückgekehrt nach Kolchis und ebenfalls traumatisiert, hat sie wiederkehrendes Fieber. Kein Wunder also, dass das Spiel der Akteurinnen in Tillmann Köhlers Inszenierung zwar oft beeindruckend, manchmal aber auch reichlich exaltiert ist.

In solchen Momenten sägt die Epilepsie in Kathleen Morgeneyers Spiel und die griechische Emotion der anderen Frauen an den Nerven des Zuschauers - und das nicht nur im Sinne von suspense, sondern auch von Zahnschmerzen. Wer gegen ekstatische Anfälle und griechisches Klage-Geheul allergisch ist, hat ab und an ein paar schwere Minuten zu überstehen. Christa Wolfs Umdeutung ist dennoch nicht uninteressant. Manche sehen - durch Aussagen der Autorin selbst beglaubigt - vor allem einen feministischen Ansatz in der Neufassung der Sage. Nicht Medea tötet ihre Kinder, sondern die Korinther steinigen die Blagen: Alle Kolcher sind ihnen verhasst - die oberschlaue Medea erst recht, zumal sie verdrängte Vergangenheit aufwühlt. Medea wird verbannt. Perfide: Alle sieben Jahre soll in Korinth in Trauer der Kinder Medeas gedacht werden, damit die Nachwelt sie als Mörderin des eigenen Nachwuchses im Gedächtnis behält. Auch von dem Mord an Glauke sowie - daheim in Kolchis - an ihrem Bruder Absyrtos spricht Christa Wolf Medea frei. So wird die Kolcherin in Wolfs Fassung rundum rehabilitiert. Neue Forschungen zeigen, dass vor Euripides der Mythos tatsächlich auf andere Weise erzählt wurde und nach ursprünglicher Lesart Medea sogar um das Überleben ihrer Kinder gekämpft haben soll.

Auch der Hass auf Medea hat vielfältigere Gründe als bei Euripides: In Köhlers Inszenierung ist Maren Eggerts Medea eine souveräne, selbstbewusste Frau, die sich der überbordenden Emotionen dankenswerterweise enthält und sogar durch einen großartig gesprochenen Monolog überzeugt, als sie von der bevorstehenden Hochzeit Jasons mit Glauke erfährt. Edgar Eckerts Jason dagegen ist ein Jammerlappen, der Medeas Stärke in Arroganz und erpresserisches Auftreten umdeutet. Hier kommt eine starke, selbstbewusste Frau einer fremden Rasse, verfügt über Wissen und Fähigkeiten, die in Korinth noch unbekannt sind, und verweigert die Assimilation. Natürlich kann man auch das als einen feministischen Interpretationsansatz bezeichnen - starke Frau gegen schwache Männer, schwachen Staat und eingeschüchterte, missgünstige Bevölkerung. Köhlers Inszenierung hat aber noch einen anderen Schwerpunkt. Das angeblich so barbarische Kolchis scheint auf einem viel moderneren Entwicklungsstand zu sein als Korinth. Dort können Frauen Königinnen werden (was Wolf noch zu beweisen hätte…), dort war die Amtszeit des Staatspräsidenten… äh Königs auf zweimal sieben Jahre begrenzt (wogegen Aietes allerdings mit den gleichen verbrecherischen Mitteln aufbegehrte wie Kreon in Korinth), und die fremden Argonauten erhielten (allerdings aus auch bei Wolf durchaus fragwürdigen Motiven) Unterstützung bei der Realisierung des Ziels ihrer Reise. Die Kolcher aber sind Korinthern wie Argonauten Flüchtlinge, so willkommen wie einst der Bus in Jahnsdorf bei Chemnitz. Die Kolcher sind aber auch stolz: Allein das Wort „Flüchtlinge“ kränkt sie. Fremdenhass, Ausgrenzung und geistige Isolation sind es, die Korinth so unsympathisch machen - und auch heute ein Unglück für die westliche Zivilisation und ihr so selbstbewusst behauptetes Wertesystem darstellen.

Die Fragwürdigkeit des Wertesystems in Korinth und im heutigen Europa mag auch die Figur des Akamas widerspiegeln, des Ersten Astronomen am Hof und des Königs engstem Vertrauten. Helmut Mooshammer gibt ihn als einen silberhaarigen, soignierten älteren Herrn im Business Anzug und als einen zuverlässigen Gestalter der Macht - vordergründig der des Königs, hintergründig seiner eigenen. Scheinbar steht er zunächst auf Medeas Seite, ist sie doch die einzige, die ihm auch intellektuell gewachsen scheint, doch wandelt er sich zu ihrem Feind, nachdem sie von der Ermordung Iphinoes erfahren hat: Eine Aufdeckung würde seine Machtposition gefährden. Solchen opportunistischen Wandel erleben wir bis in heutige Zeit bei vielen (wenn auch nicht allen) Machtmenschen aller Couleur, sei es aus der Politik oder der Wirtschaft. Und Medeas Erkenntnis, in Korinth bemesse man den Wert eines Bürgers an seinem Besitz an Gold, ist aktuell wie eh und je.

Christa Wolfs Interpretation und Tilmann Köhlers Inszenierung sind also zweifellos sehenswert. Köhler erliegt nicht der Versuchung, durch wohlfeile Aktualisierungen den Blick des Zuschauers mit Gewalt auf die Parallelen zur heutigen politischen Situation zu lenken. Er bleibt eng bei Wolfs Text aus dem Jahre 1996 und dem - neu erzählten - Mythos aus dem alten Griechenland. Christa Wolf hat es ihren Lesern selten leicht gemacht. Trotz Wasserplantscherei erleben wir einen anspruchsvollen, manchmal gar hirnwütigen politischen und moralischen Diskurs. Text und Inszenierung fordern vom Zuschauer eine solide Kenntnis der alten Mythen einschließlich einiger Nebenfiguren, damit er dem anspruchsvollen Denkkonstrukt mit intellektuellem Vergnügen folgen kann.