Anna, liebst du den?
„Glotzt nicht so romantisch“, steht auf den Transparenten links und rechts an den Wänden des Zuschauerraums. Nils Kahnwald spricht Brechts „Legende vom toten Soldaten“, die Ernst Busch einst für des noch jungen Bertolts Drama Trommeln in der Nacht vertonte: Eine verdammt düstere Romantik strahlt diese zu Herzen gehende, etwas pathetische Ballade mit ihrem schneidenden Sarkasmus aus. Dann erzählt Kahnwald von der Uraufführung des Dramas am 29. September 1922, inszeniert von Otto Falckenberg an den Münchner Kammerspielen. „Glotzt nicht so romantisch“ hatte auch damals an den Wänden des Theaters an der Augustenstraße gestanden. Doch hatte Brecht, damals 24 Jahre alt, in seinem Kriegsheimkehrer-Drama zu einem Schluss gefunden, den man kaum anders als romantisch bezeichnen kann und mit dem er folglich zeitlebens haderte. An den Kammerspielen hat sich Christopher Rüping nun erneut des selten gespielten Stoffes angenommen, und das Ergebnis war jetzt bei der Biennale im Siegener Apollo-Theater zu besichtigen.
Die Handlung in a nutshell: Anna Balicke ist verlobt mit Andreas Kragler, doch der zog schon vor Jahren als Frontsoldat in den Krieg. Als er nicht heimkehrt, wendet sich Anna, darin massiv unterstützt von ihrem Vater, dem Fabrikanten Friedrich Murk zu. Ihre Liebe ist klein, doch ihr Pragmatismus groß: Murk soll später die Geschäfte ihres Vaters übernehmen, und er stellt eine in unruhigen Zeiten willkommene finanzielle Absicherung für die junge Frau dar. Doch am Tag der Verlobung - Anna ist inzwischen von Murk schwanger - taucht Kragler wieder auf: schwer kriegsbeschädigt zwar, an Körper und Seele verletzt, aber mit dem Herz am rechten Fleck. Genauer gesagt sogar am linken, denn er entwickelt Sympathien für die Spartakisten, die inzwischen auf den Straßen die Revolution ausrufen. In seinem Unglück wird er von Murk und der Familie Balicke erniedrigt und denunziert, und so stürzt sich Kragler, verbittert ob des Verlusts seiner Verlobten, in den politischen Kampf. Doch das Gute siegt: Anna wird mehr und mehr sensibilisiert für das ekelhafte Gehabe ihres neuen Lovers und läuft wieder ihrem Andreas hinterher. Und der wendet sich schnurstracks vom politischen Kampf ab und dem Familienglück zu.
Klar, dass dieses romantische Ende seines Bühnen-Erstlings den späteren Salon-Revolutionär Brecht mächtig wurmte. Christopher Rüping tut nun an den Münchner Kammerspielen etwas, das man gleich in mehrfacher Hinsicht als Geniestreich bezeichnen kann. Zum einen rekonstruiert er die knapp 100 Jahre alte Uraufführungsinszenierung, soweit dies aufgrund der spärlichen Fotos, Dokumente und Rezensionen aus der Zeit möglich war. Und zum anderen inszeniert er zwei alternative Schlussfassungen. Um die gesamte Inszenierungsarbeit zu erfassen, muss man die Inszenierung eigentlich zweimal sehen: Am ersten Abend lässt Rüping den Brechtschen Original-Text spielen, und am zweiten lässt er Kragler seinem revolutionären Impetus folgen. Er findet zu einem auch theaterästhetisch hochmodernen Schluss. Trommeln in der Nacht wird zur Textfläche und zu einem mitreißenden Aufruf zur Revolution. Der Rezensent konnte nur eine der beiden Fassungen sehen, und er hatte das Glück, diese zweite, auch in ihrer Machart modernere Version gezeigt zu bekommen.
Dabei beginnen beide Fassungen gleich: mit der versuchten Rekonstruktion der Uraufführung. Alten Inszenierungsfotos nachempfundene provisorische Hochhaus-Kulissen werden auf die Bühne gerückt, der rote Mond leuchtet über der Stadt, und die Tapeten und Möbel aus Balickes Wohnung kennen wir noch von unserer Oma selig. Wiebke Puls ist Mutter Balicke: In bodenlangem schwarzem Rock und hochgeschlossener schwarzer Bluse ist die 1,85 Meter große Schauspielerin eine einschüchternde, strenge Figur, allerdings im Übermaß dem Kirschwasser zugetan. Auch die übrigen Akteure tragen historische Kostüme, und selbst wenn der sehr körperliche Fick von Wiebke Mollenhauer und Nils Kahnwald sowie der rockige Song des glatzköpfigen Damian Rebgetz sicher nicht der historischen Aufführung entstammen, wird betont statisch gespielt sowie mit demonstrativem Gestus gesprochen. Zitat also - aber mit zunehmender Dauer des Abends mit immer mehr Verweisen in die Moderne.
In der Piccadilly Bar, in der Annas Verlobung mit Murk gefeiert werden soll, hören wir krächzende Klänge vom Band, die wohl alten Aufnahmen von der Uraufführung entstammen: aufgeregt, expressiv, kurz: gesprochen wie man das heute einfach nicht mehr machen kann. Bald ist Anna mit Kragler allein. Christian Löbers Heimkehrer ist jung, groß gewachsen und schwer gezeichnet. In die demonstrative Brechtsche Spielweise mischen sich starke Emotionen: Berührend ist die Szene mit dem Kriegsheimkehrer, dem die Braut abhanden kam, berührend unbeholfen und gleichzeitig poetisch sind Annas Fragen: „Haben dich nicht die Fische gefressen?“-„Bist du nicht in die Luft geflogen?“-„Haben sie dir nicht ins Gesicht geschossen?“- Es wäre so einfach, wenn es so gewesen wäre. Doch jetzt steht Anna zwischen zwei Männern, der Kriegsheimkehrer vor einer menschlichen Katastrophe und der - in diesem Moment abwesende - Kriegsgewinnler vor einem nie zu beseitigenden Verdacht. Voller Schwermut ist diese Szene; man mag einwenden, sie sei immer noch konservativ gespielt, aber wenn am Piano U-Musik dazu klimpert, wenn Daniel Rebgetz poppige Weisen singt, weist diese Inszenierung längst in die Moderne. Auch die Wort- und Begriffs-Collage in dem hilflosen Gespräch Kraglers an Balickes Küchentisch ist so berührend wie modern. Rebgetz singt dazu Lieder, die Unterhaltungscharakter haben, aber im Zusammenhang mit der erzählten Geschichte zum beißenden Spott gegen Kragler werden. Murk gibt sich zynisch und mitleidlos: „Viele sind unter die Walze gekommen“, weist er, der als kriegswichtiger Fabrikant nie in der Hölle des Krieges war, seinen Rivalen zurück. Und Kragler fragt: „Anna, liebst du den?“ Draußen marschiert der Spartakus.
Anna versucht, neutral zu bleiben: „Es geht los. Die Massen erheben sich. Der Mord geht weiter“, konstatiert sie. Private und politische Tragödien ziehen über sie hinweg, ohne dass sie darauf Einfluss zu nehmen vermag. Ganz langsam, aber unerbittlich lässt Christopher Rüping die Lage eskalieren. Aber er bringt auch die Poesie, die viele Brecht-Gedichte auszeichnet, aber seinen Dramen meist fehlt, zum Klingen – manche trocken-lakonische, sogar abstoßende Brecht-Sätze werden geradezu lyrisch gesprochen. Mollenhauer und Kahnwald unterspielen die Abschiedsszene von Anna und Murk bewusst, und doch wirkt auch sie berührend in ihrer einfachen Sprache. Es folgt der 4. Akt - an diesem Abend die Neufassung. Längst sind die Kulissen aus 1922 abgeräumt. Sie sind ersetzt durch eine Lichtskulptur aus Neonröhren. „Aufruhr, Streik, Kanonen, Spartakisten - uns knallen sie nicht ab!“: Nils Kahnwald und Wiebke Puls hauchen die Sätze wie ein magisches Wortkonzert ins Mikrofon. Christian Löber berichtet von den Gräueln des Krieges, die Kragler erlebt hat: traumschön, traumtraurig, traumtragisch. Die Aufführung wirkt jetzt phasenweise fast konzertant. Wir sind jetzt mitten im Spartakus-Aufstand, hören die Trommeln in der Nacht und lassen uns mitreißen von einem drängenden, emotionalen Aufruf zur Revolution. Löber steigt auf die Stuhllehnen im Parkett. Sein Selbstbewusstsein scheint wiederhergestellt: „Hier bin ich. Mein Name ist Kragler!“
Dieser lange 4. Akt entwickelt sich zu einer der großartigsten Theaterszenen der letzten Jahre. Politische, frauenfeindliche, emanzipatorische Parolen werden gerufen. Kragler schneidet Anna, die ihm ihre Schwangerschaft gesteht, die Kehle durch. Und er wird rehabilitiert: „Einer kommt aus dem Krieg zurück und findet seine Frau im Bett mit einem anderen… - RÜHRSTÜCK! … Aber einer findet auf der Straße eine neue Idee.“ Es ist die Idee gegen die Phrasen des Bürgertums, gegen Tradition und Repräsentation, auch gegen das Repräsentationstheater. Das alte - traditionelle - Bühnenbild wird geschreddert. Das ist, wie gesagt, ein fulminanter Schluss. Kragler ist sein Protagonist - ein Wutbürger wie er im Buche steht. Er putscht uns Zuschauer regelrecht auf. Doch wenn wir wieder zur Besinnung kommen, dürfen wir leise fragen: „Anna, liebst du den?“