Teflonic Identity Manoeuvring
Die Business Woman im grauen Banker- oder Anwalts-Kostüm stimmt uns auf den Abend ein: Zuschauer, die in Anbetracht des Stück-Titels Cum-Exan Erwachsenen-Unterhaltung gedacht hätten, müsse sie enttäuschen. Allerdings werde es in den nächsten eineinhalb Stunden mindestens obszön, wenn nicht gar pervers. Alle Personen, denen wir an diesem Abend begegnen würden, seien Verbrecher - nicht unbedingt vom Gericht verurteilt, aber moralisch schuldig.
Cum-Ex: Das gilt vielen als das Kürzel für den größten Steuerraub der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte. Die Kurzfassung: Bei Cum-Ex-Geschäften wird aufgrund geschickter Ausnutzung von zeitlichen Abläufen zu Lasten des Staats eine doppelte Steuerrückerstattung auf Dividendenerträge kassiert. (Wem die Langfassung zu kompliziert ist, der lese mit dem Beginn des nächsten Absatzes weiter.)Es geht um Aktientransaktionen kurz vor und kurz nach dem Zeitpunkt der Dividendenzahlung. „Cum“ sind die Aktien vor dem Dividendenzahlungszeitpunkt, „Ex“ die Aktien danach, wenn der Kurs am Aktienmarkt gesunken ist, da die Gewinnausschüttung bereits erfolgt ist. Unternehmen, die im Besitz von Aktienvermögen sind, erhalten Dividenden steuerfrei, damit Unternehmensgewinne nicht mehrfach versteuert werden. Die zum Zahlungszeitpunkt automatisch einbehaltene Kapitalertragssteuer erhalten die Unternehmen zurückerstattet. Unter bestimmten Umständen können auch andere Investoren sich die Kapitalertragssteuer vom Staat zurückerstatten lassen. Zu diesem Zweck müssen sie eine Steuerbescheinigung vorlegen. Durch komplexe Dreiecksgeschäfte und (legale) Leerverkäufe, also Verkäufe von Aktien, mit denen sich der Verkäufer erst nach dem Verkaufsabschlusszeitpunkt eindeckt, kann es geschehen, dass für eine nur einmal ausgeschüttete Dividende an gleich zwei Transaktionspartner eine Steuerbescheinigung ausgestellt wird. Voraussetzung ist, dass der Verkauf vor dem Dividendenzahlungszeitpunkt, die Lieferung aber erst danach erfolgt. Wenn aber sowohl der Eigentümer als auch der Besitzer der Aktien, die aufgrund der zeitverzögerten Lieferung der Papiere auseinanderfallen, eine Steuerbescheinigung erhalten, ist der Staat der Gelackmeierte. Genau das ist das Ziel des Geschäfts. Moralisch ist das ein klassischer Fall von Steuerbetrug, nach Auffassung mancher Rechtsberater und Finanzmarkt-Akteure aber eine legal zu nutzende Gesetzeslücke.
„Ist“ ist nicht wirklich wahr: Seit 2012 ist die Lücke geschlossen. Für „Cum-Ex“-Geschäfte gab es in den Jahren 2001 bis2011 einen großen Markt. Unrechtsbewusstsein war bei den meisten Marktteilnehmern nicht vorhanden. Dabei war es ausgerechnet der Bundesverband Deutscher Banken, der als erster die Politik auf die Fragwürdigkeit dieser Geschäfte aufmerksam machte. Drei Finanzminister waren in diesem Zeitraum verantwortlich: Hans Eichel, Peer Steinbrück und Wolfgang Schäuble. Sie alle erhielten Hinweise auf den Steuerbetrug, wurden aber nicht tätig - wohl auch, um das Versagen eigener Parteikollegen zu verschleiern. Endgültig platzte die Bombe, nachdem das Recherchezentrum CORRECTIV nach jahrelanger Arbeit das Ausmaß des Steuerbetrugs und die Arbeitsweise der entscheidenden Akteure öffentlich machte. Helge Schmidt, ein gesellschaftskritisch engagierter Regisseur, der den während des Asphalt Festivals in Düsseldorf gezeigten Theaterabend verantwortet, war in diese Recherche eingeweiht. Ein solch komplexes, trotz seiner politischen Brisanz in seiner Essenz staubtrockenes Thema für das Theater aufbereiten zu wollen, erfordert Mut. Es kann eigentlich nur schiefgehen oder in drastisch vereinfachter Form, ggfs. mit komödiantischem Impetus gelingen wie bei Simon Solberg mit dem ähnlich gelagerten Finanz- und Korruptionsskandal aus Malta am Schauspiel Bonn („Oh wie schön ist Panama Malta“, siehe hier). Helge Schmidt aber geht die Angelegenheit mit großem Ernst und Detailwissen an. Und siehe da: Ihm gelingt ein fesselnder Theaterabend. Traumwandlerisch balanciert das Team auf dem Grat zwischen der Vermittlung von Fakten und unterhaltsamen, verfremdenden Theaterszenen.
Zunächst einmal - und das ist in diesem Falle vermutlich sogar der wichtigste Erfolgsfaktor - baut Schmidt für seine Aufführung auf die herausragende Recherche-Arbeit des ARD-Panorama-Teams und der ZEIT- und Süddeutsche-Journalistinnen Franziska Bulban und Alexandra Rojkov. Die Fakten sind hieb- und stichfest ermittelt, die Lebenswelt der InvestmentBanker und der Spitzen-Anwälte internationaler Law Firms zutreffend beschrieben. Was geschildert wird, ist für die meisten noch nicht mit dieser Welt in Kontakt gekommenen Zuschauer verstörend, aber nach den Erfahrungen des ehemals in einer internationalen Bank tätigen Schreibers dieser Zeilen nicht übertrieben. Schmidt hat sich nach eigener Aussage zu 80 % bei den Aussagen des Kronzeugen Benjamin Frey (Name geändert) bedient, die mehrfach in Videoaufzeichnungen in die Aufführung eingespielt werden. Da die juristische Aufarbeitung des Falles noch nicht abgeschlossen ist, war er gezwungen, ohne den bei solchen Themen im Theater häufig zu erlebenden ideologischen Furor zu inszenieren und sich ausschließlich an die Fakten zu halten. Das tut der Aufführung gut, denn die Fakten sind empörend genug. Im anschließenden Publikumsgespräch äußert Schmidt sich deutlich aggressiver - von Wut und Hass und dem Wunsch, die Akteure des Finanzskandals für viele Jahre im Knast zu sehen, ist die Rede. Wut und Hass hätten der Wirkungskraft der Inszenierung aber geschadet, sie hätte wie Meinungsmache und Aufruf zur Revolte geklungen und nicht wie eine zielgerichtete, sachlich fundierte Anklage ohne eigene Befindlichkeiten. Die Meinung bildet man sich ganz automatisch, wenn man die Fakten sachlich präsentiert bekommt und die „echten“ Akteure in wiederholten TV-Ausschnitten erlebt.
Bei diesen handelt es sich keineswegs um Monster. Oder etwa doch? Sind es alles kleine Frankenstein-Kreaturen, hybride Lebewesen in menschlicher Gestalt, aber mit einem fremden, durch extrinsische Einflüsse veränderten Inneren, die das normale menschliche Moralempfinden nicht kennen? - Hier kommt die zweite Ebene von Schmidts Stück zum Tragen: Er präsentiert nicht nur Fakten zum Steuerbetrug, sondern auch wissenschaftliche Studien und allgemeine Beobachtungen zur Psyche der handelnden Akteure. Benjamin Frey, wunderbar harmlos gespielt durch den „netten Jungen“ Jonas Anders, erzählt, wie er, der intelligente, aber bodenständige Junge vom Land, nach seinem herausragend absolvierten juristischen Studium zum Bewerbungsgespräch bei einer der großen Law Firms eingeladen wird: eingeflogen zum Partner-Treffen in die USA, bewirtet mit 1911er Sherry, eingebunden in Gespräche mit den Big Shots seiner Branche in einem Ambiente von außergewöhnlichem Luxus. Frey hat bis heute nicht bemerkt, dass all dies Teil eines gigantischen, in seiner Dimension vollkommen überzogenen Assessment Centers gewesen sein dürfte. Doch Jonas Anders vermittelt dem Publikum die verführerische Kraft von Macht und märchenhaftem Reichtum.
Märchenhaft fürwahr, denn niemand bezahlt diesen Luxus aus eigener Tasche. Das besorgt der Arbeitgeber, der sich in einem Wettbewerb um die besten Kräfte glaubt wie die Spitzenvereine im Fußball - und genau wie diese manchem moralisch wenig integren Luftikus aufsitzt. Psychologisch ist es nicht verwunderlich, dass die umworbenen und mit viel Geld korrumpierten Spitzen-Leute, deren Vergütungsstrukturen und Privilegien in keiner Relation zu anderen Berufsgruppen stehen, bald von der Realität entkoppelt sind und ihre Psyche schwerwiegenden Veränderungen unterliegt. „Wie entsteht Gier?“, fragt Schmidt in seiner Inszenierung. Es wird nachvollziehbar, dass in einer solchen Welt Erhabenheits- und Allmachtgefühle entstehen. Die Aufführung zitiert eine Studie der Londoner Queen Mary University, die bei Investment Bankern aus der Top-Liga ein Verhalten entdeckte, das bislang nur in dieser Berufsgruppe festgestellt wurde: das „Teflonic Identity Manoeuvring“. Während die meisten von uns nach einem Sinn in unserer Arbeit suchen, hat das für Menschen mit diesem Verhalten keinerlei Bedeutung. Der einzige Sinn ist, Geld zu verdienen. Eine Verbindung zwischen der beruflichen Tätigkeit und der Selbstachtung oder einem eigenem moralischen Wertesystem ist nicht vorhanden. Damit wir uns nicht missverstehen: Sie wird nicht negiert oder verdrängt. Sie existiert schlichtweg nicht. Es gibt auch keine Angst - schon gar keine Angst, Werte zu verletzen oder in Konflikt mit moralischen Systemen zu geraten. Zwischen der persönlichen Identität dieser Menschen und ihrem Verhalten im Berufsleben gibt es eine unüberwindliche Chinese Wall, eine Art von Immunitätsschutz. Im Berufsleben geht es ausschließlich darum, statt viel Geld noch mehr Geld zu verdienen. Das Belohnungssystem der Banken unterstützt diesen Trend, denn andere Anerkennung als immer höhere Bonifikationen gibt es nicht. Die moralische Erosion in bestimmten Bereichen des Finanzwesens (es sind beileibe nicht alle betroffen!) ist damit leicht erklärt. - Nicht alle Investment Banker sind so wie die Studie sie beschreibt. Aber viele hat der Schreiber dieser Zeilen in seinem Leben getroffen, auf die die Studie der QMUL zuzutreffen scheint. Hüten sollte man sich davor, alle Banker in einen Topf zu werfen: Das Investment Banking angloamerikanischer Machart ist aber ein besonderes Sammelbecken exotischer Gestalten…
Die dritte Ebene, die Regisseur Schmidt und sein Team in ihre Aufführung einziehen, ist die der gesellschaftspolitischen Relevanz. Süffisant stellt die Inszenierung die Frage, warum keine einzige Frau zu den entscheidenden Akteuren des Cum-Ex-Skandals zählte: Ist es das typisch männliche Verhalten, sich selbst und den anderen stets beweisen zu müssen, dass man der Schönste, Beste, Cleverste ist? Mit spitzer Ironie verstehen Jonas Anders und Günter Schaupp diese Verhaltensweise auch im Gespräch mit der ermittelnden Staatsanwältin herauszuarbeiten. Vor allem aber stellt die Inszenierung die Frage nach den gesellschaftlichen Auswirkungen von Ungleichheit. Ungleichheit führe bei Schlechtergestellten zu einer Erosion des Selbstwertgefühls - und das wiederum zu einer weiteren Segregation der Gesellschaft, zu einem Niedergang des nachbarschaftlichen Miteinanders, zu mehr Angst und Mobbing bis hin zu einer zunehmenden Zahl von Tötungsdelikten.
Ist, wie man nach dieser Beschreibung vermuten könnte, die Aufführung überfrachtet mit Fakten? Nein: Der Abend langweilt keine einzige Minute. Spielszenen, Parabeln mit Füchsen in Hühnerstall, kleine pantomimische Einlagen, Vermummte, die auf leisen Sohlen Geldsäcke davontragen, kleine Maskenspiele, eine Sammel-Aktion im Publikum und immer wieder die Einblendung von Originalaufnahmen aus der Panorama-Sendung und anderen TV-Berichten über den Steuer-Skandal lockern die Aufführung auf, ohne sie zu banalisieren. Wichtige Sätze verbergen sich im Mittelteil der Aufführung: „Wir reden hier nicht über Personen, sondern über die Struktur, die immer wieder Skandale dieser Art hervorbringt.“Dazu gehört nicht zuletzt die Vergütungsstruktur des Investment Banking, aber auch die viel zu komplexe Struktur des Steuersystems. Und: In der Branche ist „dringend ein ethischer Diskurs erforderlich.“
Wohl wahr. Wir, die heutigen und ehemaligen Banker, wussten das schon vor der Finanzkrise 2008. Aber wir haben es nicht geschafft.