Zocken ohne Risiko
Wieder stehen wir vor der schwarzen Halle der Alten Farbwerke, einer der Spielstätten des „Asphalt Festivals“ im Düsseldorfer Industriegebiet. „Bringen Sie ausreichend Bargeld mit“, heißt es im Programmheft und schafft schon im Vorhinein eine leichte Irritation. Dann werden wir einzeln vorgelassen, Namen werden erfragt und notiert (nicht überprüft!), ein Mitarbeiter ganz in Schwarz, zurückhaltend freundlich, begleitet mich quer durch einen Raum, der an ein Casino erinnert, und weist mir an einem der kreisförmig arrangierten Spieltische aus gediegenem Nussbaumholz meinen Platz zu. Es dauert eine Weile, bis alle Einlass gefunden haben, unter ihnen auch die Festival-Leiter Bojan Vuletic undChristian Seeger-Zurmühlen, die hier aber nichts anderes sind als ganz normale Casino-Gäste wie wir alle. (Wobei das einen besonderen Charme dieses Festivals ausmacht, dass die „Theaterdirektoren“ immer präsent und allzeit ansprechbar sind.)
Endlich ist es soweit: zwei Herren in Schwarz nehmen mitten im Raum an einem Pult Platz: offensichtlich die Oberaufsicht, die später mit akribischer Genauigkeit und rasanter Geschwindigkeit Gewinne und Verluste notieren und oben an einem Turm veröffentlichen werden. Dann erfahren wir, dass wir heute nicht Zuschauer, sondern Mitspieler sind. Jeder von uns vertritt als Akteur eine Privatbank und der Spieltisch - fünf wahllos zusammen gesetzte Mitspieler - gemeinsam einen fiktiven Staat.
Behutsam fordernd treten die Croupiers und Croupières an die Tische und verlangen tatsächlich „echtes“ Geld von uns. Das Vertrauen, das unterdessen aus der Saalmitte über Lautsprecher immer wieder eingefordert wird, ist an unserem Tisch begrenzt: zwischen einem und zwanzig Euro ist der Einsatz, der vom Croupier in Jetons von Millionenwert gewechselt wird. (Und am Ende - nach dem heftigen Applaus - zurückgezahlt wird.)
Ein Gong ertönt: „Der Markt ist offen“, heißt es und zunächst wird nach überschaubaren Regeln in mäßigem Tempo gezockt, gewürfelt, gewonnen und verloren. Doch mehr und mehr nimmt das Ganze Fahrt auf, aus der Kapitalmaximierungsmaschinerie wird für manche ein Minimierungsmechanismus: die Einsätze steigen, das Kapital verschwindet, Kredite werden aufgenommen, Schuldscheine verteilt; doch aus geheimnisvoller Quelle schafft der Croupier immer wieder „frisches Geld“ herbei.
Doch irgendwann geht es nicht mehr ums Zocken, längst sind wir Teil einer simulierten internationalen Finanzwirtschaft, dabei spielen Staatsanleihen und Shortselling-Optionen eine Rolle, dann wird mit Rohstoffen und allen möglichen Finanzprodukten, mit horrenden Summen jongliert. Spekulationen und Transaktionen, An- und Verkäufe werden panisch getätigt. Stimmen überschlagen sich, Gebrüll und Hektik füllen den Raum: dann müssen die ersten Banken aufgeben, mit anderen fusionieren, bis auch das nicht mehr reicht: ein Staat nach dem anderen wird zahlungsunfähig, Geld und Papiere werden wertlos einkassiert: CRASH!
Das Licht über den betroffenen Spieltischen erlischt. Das trügerische Wirtschaftssystem ist zusammengebrochen: doch siehe da, über einem Tisch bleibt es strahlend hell, dieser Staat ist der Profiteur. Es geht also doch. Ein neues Spiel, ein neues Glück! Oder?
Zwei Stunden höchst spannendes Mitmach-Theater bei dem es keinen Zuschauer gibt. Jeder ist Akteur. Jeder entscheidet mit, ist geistig und psychisch gefordert, fühlt sich in „spielerischer“ Verantwortung. Ein grandioser Nervenkitzel, ein intellektuelles Vergnügen und vielleicht auch ein nachhaltiger Denkanstoß. Zweifellos ist es - trotz aller Realitätsbezüge - kein Dokumentartheater, denn die Regeln und Mechanismen dieser Performance sind nicht Eins-zu-eins die der realen Finanzwelt, jedoch eine gescheite Analyse und überzeugende Übertragung in eine grandiose Scheinwirklichkeit, die nicht unbedingt Katharsis, möglicherweise jedoch Erkenntnisgewinn bewirkt.
Der Regisseur Alexander Devrient und seine zehn virtuosen Schauspieler*innen der belgischen „Ontroerend Goed“ schaffen zum Einen eine ganz unerwartete und ungewöhnliche Theatererfahrung sowie ein überaus sinnliches Theatererlebnis und zum Anderen mit dem augenzwinkernden Hinweis, dass sich das Thema: PFUND, YEN, EURO, DOLLAR auch als LIES (=Lügen) lesen lässt, einen so humorig wie ernsthaften Beitrag zum Festival-Motto: HUMAN BEEING HUMAN.